Bauen

Das Besteigen des „Top of Tyrol“ im österreichischen Stubaital ist ein Abenteuer für sich. (Foto: Stubaier Gletscher)

18.11.2011

Über dem Abgrund

Ob Garmisch, Sölden oder Stubaital: Aussichtsplattformen sind der neue Architekturtrend am Berg

Garmisch, Sölden, und das Stubaital haben eines gemeinsam – sie haben den Berg entdeckt. Das klingt paradox, ist aber so: Die erfolgreichen Wintersportorte Garmisch-Partenkirchen, Neustift und Sölden haben sich darauf besonnen, dass sie inmitten einer grandiosen Bergwelt liegen, die allen, also nicht nur den Bergsteigern und Skifahrern, zugänglich gemacht werden soll. Und um diese betrachten zu können, haben diese Orte Aussichtsplattformen auf ihren höchsten Bergen gebaut. Hochgefühl oder Magenkribbeln – ein Adrenalinkick ist garantiert, denn rund 50 Meter oberhalb der Bergstation der Alpspitzbahn schwebt die Aussichtsplattform AlpspiX mit ihren beiden insgesamt dreizehn Meter über dem Abgrund hervorstehenden Stegen aus Stahl, in Form eines „X“. Am Ende der aufwändigen Konstruktion erwartet die Gäste eine Glaswand – mit uneingeschränktem Blick in fast 1000 Meter Tiefe. Diese außergewöhnliche Architektur bringt nicht nur das Blut in Wallung sondern macht einmalige Ausblicke zur Zugspitze, dem Höllental sowie dem schroffen Bergpanorama möglich.
Naturschützer protestieren: „Berge sind kein Fast Food“
Auch für weniger „geländegängige“ Besucher sind spektakuläre Höhenerlebnisse garantiert. Nicht mehr als ein dünner Gitterboden trennt die Besucher der neuen Aussichtsplattform vom 1000 Meter tiefen Abgrund, was Nervenkitzel verspricht, bei Naturschützern aber heftig umstritten ist. Die beiden Profi-Bergsteiger Stefan Glowacz und Jürgen Knappe protestierten mit einer spektakulären Aktion gegen die neue Aussichtsplattform. Mit Seilen und Klettergurten befestigt und auf einer Hängematte stehend, baumelten sie unter der oberen Rampe. „Unsere Berge brauchen keinen Geschmacksverstärker“, war auf einem großen Banner zu lesen. „Für mich ist das ein Fast-Food-Naturerlebnis“, sagte Glowacz, der schon vor Beginn der Bauarbeiten gegen das Projekt demonstriert hatte. Man solle Natur erleben und genießen, statt sie im Schnelldurchlauf zu konsumieren. Die Idee mit dem Skywalk kommt, wie der schnelle Konsum von Nahrung, das Fast Food, aus Amerika: Seit vier Jahren ragt über dem Grand Canyon ein transparentes Hufeisen in 1200 Metern Höhe über den Abgrund hinaus. Zur Eröffnung kam Butt Aldrin, der zweite Mann auf dem Mond – in Bayern begnügte man sich mit den Skilegenden Rosi Mittermeier und Christian Neureuther.
Auch andere Bergregionen belassen es nicht mehr beim Gipfelkreuz: Verblüffend ähnliche Lösungen fanden im Stubaital die Architektenbüros LAAC und Eiswelten. Mit einem einzigartigen Blick über 109 Dreitausender aus 3210 Metern Höhe begeistert die Gipfelplattform Top of Tyrol über dem Stubaier Gletscher ihre Gäste. Ein kurzer Weg führt von der Bergstation Schaufeljochbahn zu der eigens angefertigten Stahlkonstruktion. Wer in Ruhe die Aussicht genießen möchte, kann sich auf einer Holzbank niederlassen; wer den Nervenkitzel sucht, wagt sich bis auf den äußersten Punkt der neun Meter auskragenden Plattform hinaus. Von dort bietet sich Wanderern und Gästen ein faszinierender 360-Grad-Blick, der sich von den Zillertaler und Stubaier Alpen bis hin zu den Dolomiten erstreckt.
Dass Kunst, Berg und Aussicht sich nicht widersprechen, will Stubai in Fulpmes zeigen: Im Wanderzentrum Schlick 2000 steht auf 2 160 Metern die Aussichtsplattform StubaiBlick. „Die Grundform der Plattform passt sich den ursprünglichen topografischen Gegebenheiten der Landschaft an – hier wurde keine Erdbewegung durchgeführt“, so Architekt Norbert Span vom Planungsbüro Eiswelten. Wichtig sei ihm die Einbindung des Bauwerkes in die Natur: “Das Geländer besteht aus stehenden Lärchenbrettern, welche einen freien Durchblick in die Bergwelt erlauben, nur bei einer schrägen Einsicht erscheint das Geländer blickdicht. Die Lärche ist ein regionaler Baum und kommt bis in Höhen der Plattform vor.“
Schon der Weg dorthin ist Kunstgenuss in luftiger Höhe: Der kurze, barrierefreie Panoramaweg ab der Bergstation Kreuzjoch führt vorbei an ausgefallenen Sitzgelegenheiten, die von Stubaier Künstlern gestaltet werden. So wird beispielsweise ein Sessellift zur Hollywoodschaukel für Wanderer. Von der Aussichtsplattform, die im Sommer 2009 eröffnet wurde, haben Besucher einen eindrucksvollen Blick auf das Massiv der Stubaier Kalkkögel und eine Fernsicht über Innsbruck bis hin zum Wilden Kaiser und zum Zillertal.
Der Blick von den Plattformen ist auch ein Blick zurück in die Zeiten, als Berge zum ersten Mal ins Blickfeld der Reisenden gerieten, um romantisch verklärt zu werden. Der erste war Albrecht von Haller, der sich im 18. Jahrhundert in seinem Lehrgedicht „Die Alpen“ am Bergeschauen begeisterte. Zu dieser Zeit begannen nicht nur Verrückte auf Berge zu steigen, sondern eine erste Massenbewegung fand statt. Inzwischen fordert der deutsche und österreichische Alpenverein, Berge und Aussichtsgipfel, für die „vielen Tausenden von Naturfreunden“, deren Höhen mit weniger Anstrengung erreichbar seinen und „dennoch einen Umblick gestatten, der auch die Schönheit und Eigentümlichkeit der Umgebung in einem für den Naturgenuss hinreichendem Maße dem Auge vorzuführen ist“. Klingt wie: „Die geplante Aussichtsplattform ist der erste Baustein zur Steigerung der Attraktivität im Sommer.
Im Vordergrund steht hierbei, die unvergleichliche Bergwelt auch Familien mit Kindern, Senioren und weniger trittsicheren Gästen einfach und bequem nahezubringen“, so Peter Theimer, kaufmännischer Vorstand der Bayerischen Zugspitzbahn Bergbahn AG. Dass sie alle mit der Event-Kultur auf einem schmalen Grad wandern, ist den Verantwortlichen wohl nicht immer bewusst. Frank Ludin und Katrin Aste, Architekten von Top of Tyrol, sehen das so: “Es liegt in der Verantwortung des Architekten, aber vor allem auch des Bauherren, behutsam und sensibel in der Landschaft zu agieren. Primär ist diesbezüglich kritisch zu hinterfragen, ob die Intervention oder das Bauwerk einen Mehrwert schafft, notwendig ist oder nicht vielmehr Naturraum zerstört bzw. beeinträchtigt.“
Weitere Aufträge haben die Architekten abgelehnt
Die Plattform am Stubaier Gletscher liegt nicht in unberührter Natur, sondern in einem durch den Wintersporttourismus stark beanspruchten Gebiet. Sie ermöglicht dem Besucher ein 360-Grad- Panorama mit unglaublicher Fernsicht genauso, wie einen kritischen Ausblick auf Gletscherschmelze und Klimawandel. Den Auftrag für eine weitere Plattform haben die Architekten abgelehnt, da sie die Vorgaben des Bauherren nicht befürwortet haben. Stattdessen werden jetzt Yoga-Workshops auf der Stubaier Plattform angeboten – das Gegenteil von Adrenalinkick. (Sonja Vodicka)

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