Bauen

Blick in den Tunnel. (Foto: Carolyn Meyer)

17.11.2017

Von der Tradition in die Moderne

Auslandspraktikum in der indischen Millionenstadt Jaipur

Indien ist das Land der Farben- und Kulturvielfalt. Weltbekannt ist der Staat aber auch für seinen chaotischen Verkehr. Die Straßen scheinen permanent überlastet, unaufhörliches, lautes Hupen gehört zum Straßenbild ebenso wie die scheinbar nicht vorhandenen Vorfahrtsregelungen. Um dem Verkehrschaos in den Großstädten entgegenzuwirken, fördert die indische Regierung den raschen Ausbau der öffentlichen Nahverkehrssysteme: In sieben Großstädten sind bereits Metrolinien in Betrieb und entlasten den Verkehr; in 14 Städten wird derzeit an Metronetzen gearbeitet.
Jaipur, die Hauptstadt des indischen Bundesstaats Rajasthan, liegt mit 3,1 Millionen Einwohnern zwar nur auf Platz 10 der größten Städte Indiens, hat aber mit einer jährlichen Bevölkerungszunahme von 4,6 Prozent eine der höchsten Zuwachsraten des Landes. Hier ist der Ausbau eines Metronetzwerks in zwei Phasen geplant. 2011 begann die Umsetzung der ersten Phase: Eine zwölf Kilometer lange Metrotrasse verläuft von den südwestlichen Wohngebieten in Richtung Osten bis in die historische Altstadt hinein. Der oberirdische auf einer Brücke über dem Straßennetz verlaufende Streckenabschnitt mit dem Projektnamen 1A erstreckt sich über 9,7 Kilometer und ist bereits seit 2015 in Betrieb. Zurzeit wird der erste unterirdische Streckenabschnitt mit dem Namen UG-1B des Metronetzes der Millionenstadt gebaut, seit 2013 von der taiwanesischen Baufirma Continental Engineering Corporation verwirklicht.
Das Bauvorhaben wird mit ausschließlich indischem Personal von bis zu 700 Ingenieuren und Bauarbeitern unter der Leitung eines deutschen Projektdirektors ausgeführt. Während meines vierten Semesters im Masterstudium Bauingenieurwesen an der TU München bekam ich die Möglichkeit, auf dieser Baustelle mitzuarbeiten. Im Rahmen eines dreieinhalbmonatigen Praktikums lernte ich neben ingenieurspezifischen Aufgaben und Fragestellungen auch vieles über die Kultur und das alltägliche Leben in Indien. Jaipur wurde 1726 von Maharaja Jai Singh II. als neue Hauptstadt des Königreichs Amer gegründet. Die historische Altstadt ist heute Zentrum der Millionenstadt und als „Pink City“ weltbekannt. 1876 wurden anlässlich des Besuchs des Prinzen von Wales, Edward VII., die Hauswände und Mauern der Altstadt rosarot bemalt, wodurch die Bezeichnung entstand. Heute zählt das Viertel mit der ehemaligen Stadtmauer und ihren Toren, den kilometerlangen Ladenzeilen, zahlreichen Tempeln, dem Hawa Mahal und City Palace zu den bekanntesten Touristenattraktionen Indiens. Das U-Bahn-Projekt liegt inmitten dieser Altstadt und ist unter Berücksichtigung der historischen Bauten und Panoramen zu planen und zu bauen. Die U-Bahntrasse verläuft unter der Hauptstraße der Pink City und ist insgesamt 2,3 Kilometer lang. An den beiden belebtesten Plätzen des Viertels, Choti Chouper und Badi Chouper, werden zwei unterirdische Bahnhöfe mit je einer Länge von 232 Metern in der sogenannten Deckelbauweise gebaut. Dabei werden von oben nach unten nacheinander drei untereinander liegende Stockwerke gebaut. Verbunden werden die Bahnhöfe durch zwei parallel verlaufende eingleisige Streckentunnel mit einem Innendurchmesser von je 5,8 Metern. Die Tunnel mit einer Gesamtlänge von drei Kilometern wurden mit Tunnelbohrmaschinen (TBM), die von außerhalb der Stadtmauern starteten, vorgetrieben – also gleichzeitig gegraben und gebaut. Zwischen den beiden parallelen Tunneln werden zusätzlich insgesamt fünf Verbindungswege, sogenannte Querschläge gebaut. Am östlichen Ende der Linie sind im Anschluss an die Badi Chouper Station unterirdische Weichen- und Abstellanlagen mit einer Länge von 235 Metern in offener Bauweise vorgesehen. In der Pink City herrscht immer ein buntes Treiben. Sei es in den Bazars, an den verschiedenen Touristenspots oder auf den Straßen, die meist vollgestopft sind mit Fahrrad-Rikschas, Tuk Tuks, Kühen, Kamel- und Buckelrindkarren – überall geht es eng zu. Zudem ist die Altstadt dicht bebaut, die Wege führen durch enge Gassen und Tore, welche den Verkehrsfluss zusätzlich erschweren. All dies führt zu erheblichen Platzeinschränkungen und Logistikproblemen bei der Umsetzung eines Großprojekts, wie dem Bauauftrag UG-1B. Durch die Deckelbauweise der U-Bahnhöfe können für den Großteil der Bauzeit Straßensperrungen durch an die Bauzustände angepasste Verkehrsumleitungen vermieden werden. Beim Erstellen der Baugrubenumschließung durch eine sogenannte Schlitzwand und der obersten Decke war dies jedoch unumgänglich, da sich der Grundriss der Bahnhöfe über die gesamte Straßen- beziehungsweise Platzbreite erstreckt. Um die Dauer der Straßensperrung zu minimieren und Ladenzugänge zu erhalten, wurde zur Herstellung der 800 Meter breiten und bis zu 26 Meter in den Boden reichenden Schlitzwände in mehreren Bauabschnitten gearbeitet.

Temporäre Tunnel

Bei der Konstruktion der Streckentunnel kamen zwei Erdruckschildmaschinen mit einem Außendurchmesser von 6,55 Metern zum Einsatz. Am Startschacht direkt außerhalb der Stadtmauer stand ausreichend Platz für die Montage dieser speziellen TBMs sowie Zwischenlagerung der Tübbinge zur Verfügung. Das ursprüngliche Vortriebskonzept sah zusätzliche Start- und Bergeschächte an beiden Stationen zum Umsetzten der TBMs vor. Um die hierfür erforderliche Sperrung der Hauptstraße über eineinhalb Jahre zu vermeiden, wurde anstelle zweier Tunnelabschnitte der Vortrieb in nur einem Abschnitt vom Startschacht bis Badi Chouper mit temporärem Tunnel in den Bahnhofbereichen hergestellt. Im Zuge des Stationsaushubs wurden dann die temporären Tunnel wieder abgebrochen.
Zur Bergung wurden die TBMs bis zu den konstruktiven Öffnungen nahe der Mitte der Badi Chouper-Station gefahren. Die Bergung erfolgte mit einem gigantischen 500 Tonnen Mobilkran, der auf das maßgebende Gewicht Mittelschilds ausgelegt war. Beide TBMs wurden durch dieselbe Öffnung geborgen. Der Abtransport der TBM-Teile zur Fertigteilfabrik fand ausschließlich nachts statt und passierte die Stadtmauer in der einzig passenden Lücke neben dem Chandpole Tor. Die gesamte Straßenführung wurde aufgrund zahlreicher Hindernisse in Form von mittig platzierten Tempeln und Bäumen detailliert vermessen und die Transportroute bis auf das kleinste Detail festgelegt. Allgemein spielte die Logistik in dem Projekt eine besondere Rolle: Neben den örtlichen Engpässen gab es zusätzlich zeitliche Einschränkungen für den Schwerverkehr. So wurde tagsüber für Lkw-Verkehr innerhalb der Pink City eine Sondergenehmigung der Verkehrspolizei benötigt, sodass Abtransport von Aushub und Lieferung von Baumaterial ausschließlich nachts stattfanden. Auf dem Gelände der Fertigteilfabrik, 23 Kilometer außerhalb der Altstadt, befand sich zudem die eigene Betonmischanlage. Je nach Größe des Betonierabschnitts von bis zu 1000 Kubikmetern mussten Betontransporte mit Ausnahmegenehmigung zum Teil auch tagsüber vonstattengehen – allerdings erst nach zeitaufwendiger Genehmigungsprozedur. Für die parallel laufenden Tunnel- und Stationsarbeiten musste Bodenaushub aus der Baustelle hinaus und Baumaterial hineingehoben werden. Da die konstruktiven Öffnungen in den Zwischendecken die einzigen direkten Zu- und Ausgänge zu den Bauebenen in der Deckelbauweise bilden, kommt es hier immer wieder zu Engpässen. Zudem steht nur ein begrenzter Lagerungsraum sowohl an der Oberfläche wie auch unten in der Baugrube zur Verfügung. All diese Faktoren zeigen, wie aufwendig und umfassend die Koordinationsarbeit für einen möglichst reibungslosen Ablauf im Rahmen dieser Baustelle war und ist. Umliegende und bei Grabungen freigelegte historische Gebäude hatten zusätzlich großen Einfluss auf Projektentwurf und Bauablauf. Die Pläne mussten entsprechend angepasst werden, um eine Zerstörung der Denkmäler und bestehenden Strukturen zu vermeiden.
So wurden zu Beginn des Aushubs im Jahr 2014 in der Mitte der beiden Bahnhofsbereiche rechteckige Stufenbrunnen aus dem 17. Jahrhundert entdeckt. Die 20 x 20 Meter großen Becken dienten ehemals zur Wasserversorgung der Bevölkerung, die über die umlaufenden Stufen Zugang zu den unterschiedlichen Wasserspiegeln des 5,45 Meter tiefen Brunnens hatte. Die Brunnen waren in Vergessenheit geraten, als diese vermutlich zum Zeitpunkt der Installation der Wasserleitungen vollständig zugeschüttet wurden. Darüber hinaus wurden Wassertunnel zwischen beiden Stufenbrunnen beim Erstellen der Schlitzwände gefunden; ausgehend von jedem Wasserbecken verlaufen vier Tunnel in je eine Himmelsrichtung. Die Regierung von Rajasthan entschied daraufhin, die Bahnhofsentwürfe zu überarbeiten und ein zusätzliches Zwischengeschoss mit Ausstellungsraum für Stufenbrunnen und Brunnenfiguren zu integrieren. Sie wurden daraufhin Stein für Stein abgebaut, um später wieder in die Stationen originalgetreu eingebaut zu werden. Zudem wurden im Laufe der Bauarbeiten unter anderem zehn Tempel unterschiedlicher Größen temporär oder permanent versetzt. Dies war eine komplizierte Prozedur, die aus hinduistischen Gründen nur in bestimmten Monaten erfolgen konnte und auf Widerstand in der Bevölkerung stieß. Die Regierung errichtete aus diesem Grund unter Einbeziehung der Tempel-Komitees extra neue Bauwerke, in denen die Heiligtümer während der Bauzeit untergerbacht werden.
Von besonderer Brisanz war außerdem die Unterquerung des Chandpole Gates, da es für das historische Tor der ehemaligen Stadtmauer keine Pläne und von daher auch keine Auskunft über dessen Tragfähigkeit und Standsicherheit gab. Aus dem Grund wurde das Fundament mittels neun Boden- und Mauerwerksproben ermittelt. Da die Unterquerung kurz nach Start des TBM-Vortriebs stattfand, war es unumgänglich mit nur sieben Metern Überdeckung zu unterqueren, was knapp dem Bohrdurchmesser von 6,55 Metern entspricht. Hier war also besondere Vorsicht vor Bodenbewegungen an der Oberfläche, sogenannte Setzungen, und die daraus resultierenden Schäden am Tor geboten.

Stufenbrunnen gefunden

Als besondere Maßnahmen wurden erstens der Vortrieb ohne Stopp zehn Meter vor und nach Unterquerung des Tors durchgeführt sowie zweitens, Überwachungsmaßnahmen an der Struktur und drittens eine detaillierte Berechnung durch 3D-Modellierung zur Interaktion von Tunnel und Tor vom Statiker erstellt. Um Oberflächensetzungen im kritischen Bereich zu vermeiden, wurden Druckwerte im Bereich des Aushubs vorne in der TBM während des Vorgangs stetig neu kalibriert und konstant gehalten. Nicht zuletzt aufgrund solch komplexer Vorgänge war es für mich eine ganz besondere Erfahrung, auf dieser Baustelle mitzuarbeiten. Die Pink City repräsentiert durch und durch Indien mit seinen Bräuchen, Festen und glorreichen Vergangenheit. Dieses so außergewöhnliche Umfeld macht die Baustelle einzigartig. Man arbeitet genau dort, wo Menschen aus aller Welt hinkommen, um Urlaub zu machen. Die Metro soll die Pink City erreichbarer und ein wenig ruhiger gestalten, ob es nicht doch bei dem üblichen Trubel bleibt, wird man Ende 2018 sehen, wenn die U-Bahn voraussichtlich in Betrieb geht.  (Carolyn Meyer - Die Autorin studiert im 5. Semester an der TU München Bauingenieurwesen mit den Schwerpunkten Baumechanik, Baukonstruktion, Geotechnik, Massiv- und Wasserbau. Während ihres dreieinhalbmonatigen Auslandspraktikums im Norden Indiens bei der taiwanesischen Baufirma Continental Engineering Corporation erhielt sie Einblick in die Ablaufplanung, Bauaufsicht und Tragwerksplanung des Bauvorhabens des Metronetzes der Millionenstadt Jaipur. Gleichzeitig lernte sie die indische Kultur und den Alltag der hinduistisch geprägten Region und deren Einflüsse auf die Arbeit einer Bauingenieurin vor Ort kennen.)  (Eine Tunnelbohrmaschine im Einsatz; ein Stufenbrunnen und die Bergung eines TBM-Schneidrads - Fotos: Carolyn Meyer)

Kommentare (1)

  1. Franzjosef am 18.11.2017
    Hallo Carolyn,; auch wir in Kärnten sind stolz auf Dich. LG . Aus Kärnten
Die Frage der Woche
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2023

Nächster Erscheinungstermin:
29. November 2024

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 24.11.2023 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.