Kommunales

Nicht jedes Herumzappeln macht ein Kind "verhaltensauffällig", und doch ist die Zunahme von Kindern und Jugendlichen, die "ausrasten", inzwischen in den Statistiken der Kommunalbehörden festzumachen. (Foto: bilderbox)

17.08.2012

Auffällig anfällig

Städtische Jugendämter melden immer mehr therapiebedürftige Kinder

Spongebob ist der Held in deutschen Kinderzimmern. Die Sendung mit dem gelben Schwamm wird von den Kleinen seit Jahren zur Lieblingsserie gekürt. Tatsächlich hat der quirlige Quadratschädel für viele der medienaffinen Sprösslinge eine Vorbildfunktion. Dabei führt der „Konsum“ dieser Zeichentricksendung gemäß einer Untersuchung der Universität von Seattle (USA) zu Aufmerksamkeitsstörungen und Lernschwierigkeiten.
Das ist allerdings nur einer von vielen Gründen, warum laut einer Studie des Robert Koch-Instituts inzwischen über 20 Prozent aller Kinder deutschlandweit als verhaltensauffällig gelten. Die bayerischen Jugendämter werden zunehmend damit konfrontiert. „Die Fallzahlen und Einzelfallkosten haben unwahrscheinlich zugenommen“, bestätigt der stellvertretenden Leiter des Fürther Jugendamtes, Peter Modschiedler. Allein in der mittelfränkischen Stadt ist die Anzahl der erzieherischen Maßnahmen für Kinder seit 2006 um 20 Prozent auf 792 Fälle und die Ausgaben für die Familienhilfe im gleichen Zeitraum um 75 Prozent auf 1,4 Millionen Euro gestiegen.

Aggressiv und deprimiert

Auslöser für diese Schritte sind Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen (ADHS), chronisch somatische Erkrankungen oder stressbedingte Belastungsreaktionen. Jungen sind durchschnittlich öfter betroffen und neigen häufiger zu Wutanfällen. Mädchen hingegen werden eher introvertiert. „Aggressive werden noch aggressiver, Deprimierte ziehen sich noch weiter zurück“, weiß Simone Fleischmann von der Abteilung Berufswissenschaft des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV).
Die Auswirkungen kann die Schulleiterin in Poing jeden Tag in der Praxis erleben: Schüler können sich nicht konzentrieren, beschimpfen die Lehrkräfte oder schlagen um sich. „Die vier bis fünf Vorfälle pro Woche treffen Lehrer im Innersten und gefährden auch deren Gesundheit extrem.“ Aus der Burn-out-Forschung wisse sie, dass verhaltensauffällige Kinder für das Lehrpersonal die größte Herausforderung seien. Aus diesem Grund sind die einschlägigen Fortbildungsangebote ständig ausgebucht.
Im Landkreis Würzburg haben die Aufwendungen nicht nur wegen der höheren Tagessätze für Heime ebenfalls zugenommen. „Die Fallzahlen haben sich insgesamt nicht stark bewegt, aber die Fälle werden schwerer“, erläutert der dortige Amtsleiter für Jugend und Familie, Hermann Gabel. Das Jugendamt in Dillingen sieht ebenso eine steigende Tendenz im Bereich erzieherische Maßnahmen und Eingliederungshilfe.
Eric van Santen vom Deutschen Jugendinstitut berichtet von einem „eindeutigen Trend“ bei der Zunahme ambulanter Hilfe, bei der eine Fachkraft zur Erziehungsberatung in die Familie kommt. Die Unterbringung in Einrichtungen oder Pflegefamilien ist zwar insgesamt kürzer geworden, dafür ist jedoch deren Zahl angestiegen.
Van Santen warnt jedoch: „Psychologen reden schnell von Verhaltensauffälligkeiten.“ Auch die Diagnose „Burn-out“ habe in den vergangenen Jahren gleichermaßen massiv zugenommen. „Da muss man ein bisschen aufpassen.“
Die höheren Fallzahlen seien andererseits auch ein Zeichen, dass Jugendämter aufmerksamer reagierten und ein Beleg für die Bewusstmachung durch die öffentliche Diskussion. Und schließlich gilt die „Gleichung“: Ein erweitertes Angebot schafft eine größere Nachfrage.
Die Ursachen für Probleme mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen verorten Experten in den gesellschaftlichen Veränderungen. „Es gibt keine Unterstützung aus der Großfamilie mehr“, lautet Hermann Gabels Beobachtung. Eltern müssten immer länger arbeiten, wodurch die Bindung zu den Kindern abnehme.

Kranke Eltern

Zudem hätten Väter und Mütter selbst immer häufiger psychische Erkrankungen, die sich auf das Kind auswirkten. „Die Belastung in der Arbeit hat starken Einfluss auf Familien“, ergänzt van Santen. Modschiedler sieht insbesondere bei Alleinerziehenden Schwierigkeiten: „Es lassen sich Parallelen beim Rückgang des Einkommens und der Inanspruchnahme von Hilfe feststellen“. In Fürth wurde im vergangenen Jahr 20 Prozent mehr Erziehungsberechtigten das Sorgerecht entzogen als noch 2006. „Eltern sind völlig verunsichert, weil sie nicht wissen, wie sie ihr Kind erziehen sollen“, sagt Jugendamtsleiter Modschiedler. „Gefühlt geht die Erziehungskompetenz zurück.“
Was ebenfalls zu Verhaltensauffälligkeiten führen kann, ist schulischer Dauerstress: „Im leistungsbezogenen Schulsystem haben sich die Ansprüche in komprimierter Zeit enorm erhöht“, sagt Schulleiterin Sabine Fleischmann. Früher habe oftmals die Lehrerautorität solche Verhaltensauffälligkeiten überdeckt und die Schüler einfach als „Klassendepp“ oder „Klassenkasper“ abgetan. „Heute muss das Benehmen mit den Eltern, Fachlehrern und einem Therapeuten reflektiert werden“, erklärt sie. (David Lohmann)

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