Kommunales

Noch nicht erwachsen, aber schon suchtkrank: Leider auch im reichen Bayern kein Einzelfall. (Foto: dpa)

21.02.2018

Drogenkrank, obdachlos, minderjährig

Dramatische Schicksale von Jugendlichen in Bayern

Das Elend versteckte sich unter einer Flussbrücke, am Rande der schmucken Nürnberger Altstadt. Dort hatten Marcus und seine Gefährten ihren Schlafplatz - auf einem Stück Asphalt direkt neben der Pegnitz. Und nur ein paar Meter entfernt seien die Leute vorbeigelaufen, erzählt Marcus, der seinen richtigen Namen nicht in den Medien lesen möchte. "Dabei hätten die nur mal um die Ecke schauen müssen, um zu sehen, welches Elend wir hier in Deutschland haben."

Marcus hat nach eigenem Bekunden jahrelang auf der Straße gelebt. Das änderte sich, als ihm ein befreundeter Obdachloser vom Projekt "Back in Future" (BIF) erzählte. Es handelt sich dabei um ein Angebot des Don Bosco Jugendwerks Nürnberg für junge Leute zwischen 15 und 25 Jahren, die so viele Probleme haben, dass sie am Leben zu scheitern drohen. Sozial Benachteiligten ohne feste Bleibe und Menschen in persönlichen Krisen soll das Projekt helfen, schulisch oder beruflich Fuß zu fassen. Gefördert wird es vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Rahmen des Pilotprogramms "Respekt", an dem rund 20 Projektträger in ganz Deutschland beteiligt sind.

Er sagt nicht "Mutter", nur "Erzeugerin"


Seit dem Start von "Back in Future" im Frühling 2016 habe sein Team Kontakt zu mehr als 200 schwer erreichbaren jungen Leuten im Raum Nürnberg gehabt, berichtet Stefan Müller, Leiter des Don Bosco Jugendwerks. Rund 130 seien seit Projektbeginn als Teilnehmer aufgenommen worden, aktuell würden 37 betreut. "Das ist einerseits toll, weil es zeigt, dass es funktioniert", sagt Müller. "Andererseits ist es aber erschreckend. Ich hätte nicht gedacht, dass die Not in Nürnberg so groß ist."

Wie groß die Not im ganzen Land ist, zeigen Daten des Deutschen Jugendinstituts (DJI): Auf rund 37 000 schätzt es die Zahl junger Menschen unter 27 Jahren ohne festen Wohnsitz in Deutschland. Die Angaben beruhten auf Befragungen von Fachkräften. Gesicherte Daten zur Zahl betroffener Jugendlicher gibt es laut Deutschem Jugendinstitut nicht - nicht zuletzt weil sich viele teils bewusst von institutionellen Strukturen fernhielten und sich so unsichtbar machten, heißt es in einem aktuellen DJI-Papier zum Thema.

Auch Marcus entzog sich dem Radar gesellschaftlicher und staatlicher Einrichtungen, lernte nie Nestwärme kennen. Seine Mutter habe ihm erzählt, dass sie ihn nur auf die Welt gebracht habe, um sich dann schnell von seinem Vater zu trennen und Unterhalt zu kassieren, sagt Marcus. Der 23-Jährige klingt verbittert. "Sie verleugnet mich, ihr eigenes Kind, und ich weiß nicht warum." Das Wort "Mutter" nehme er ungern in den Mund, für ihn sei sie nur seine "Erzeugerin."

"Mein Stiefvate rhat mich jeden Tag verprügelt"



Nach einem unsteten Lebenswandel mit vielen Ortswechseln habe sie wieder geheiratet und sei mit ihm zu seinem Stiefvater in ein Dorf im Altmühltal gezogen. "Und da ging es richtig los: Jeden Tag wurde ich von meinem Stiefvater verprügelt." In einem alten Kuhstall habe es eine kleine Kammer gegeben, vielleicht zwei Quadratmeter groß. "Da wurde ich regelmäßig eingesperrt - ohne Strom, ohne alles", sagt Marcus. Sechs oder sieben Jahre alt sei er damals gewesen. Und im Winter habe sein Stiefvater ihn einmal nachts im Wald ausgesetzt. "Ich stand im Weg, weil ich das Kind aus erster Ehe war. Ich passte nicht in die heile Welt auf dem Dorf."

Mit zehn Jahren sei er in ein Heim gekommen und habe bald "Scheiße gebaut", sagt Marcus. Mit elf Jahren habe er angefangen zu kiffen, mit zwölf auch Speed und Ecstasy genommen. Als Zwölfjähriger habe er begonnen, über zwei Jahre hinweg Drogen zu verkaufen - "und nicht gerade wenig." Schon damals habe er erste Kontakte zu Leuten auf der Straße gehabt und gemerkt: "Die sind wenigstens ehrlich zu dir. Die lügen dich nicht an. Darin liegt der Reiz der Straße. Das Geheuchelte und Friede, Freude, Eierkuchen brauche ich nicht."

Als Teenager lebt Marcus zeitweise bei seinen Großeltern in der mittelfränkischen Provinz, macht eine Ausbildung zum KfZ-Mechaniker. Doch dann sei es zum Streit mit seiner Oma gekommen. Mit 19 Jahren, erzählt Marcus, sei er nach Nürnberg und ganz bewusst wieder auf die Straße gegangen.


Mit elf gekifft, mit zwölf Speed



Viele Geschichten von Straßenjugendlichen beginnen so ähnlich wie jene von Marcus. Etliche hätten Konflikte in der Familie, sagt Tanja Holzmeyer, Teamleiterin von "Back in Future." Und viele hätten suchtkranke Eltern oder seien von Kindesbeinen an bei Pflegeeltern groß geworden, nur um später im Heim und der Psychiatrie zu landen. Irgendwann komme der Tag da, an dem sie ausrissen. Am Anfang sei das Straßenleben für einige ein großer Spaß - "bis es purer Ernst wird."

Kämen Drogen ins Spiel, spitze sich deren Lage oft zu. "Sie haben das Gefühl, nichts mehr wert zu sein - und dann ist es ja aus ihrer Sicht egal, wenn sie so weitermachen", sagt Holzmeyer. Sie habe mit Mädchen zu tun, die sich wegen Geldproblemen prostituierten. "Wir versuchen, ihnen aufzuzeigen, dass es andere Wege gibt, um an Geld zu kommen."

Das zwölfköpfige Team von "Back in Future" ist rund um die Uhr für junge Leute in Krisenlagen erreichbar. Im ersten Schritt gehe es darum, ihr Vertrauen zu gewinnen, sagt Einrichtungsleiter Müller. Wenn sie sich sicher fühlten, könne man ihre Probleme angehen und ihnen einen Therapieplatz oder einen Jobcenter-Termin vermitteln. Als größte Hürde auf dem Weg in die Normalität sieht Müller aber die Wohnungsnot in der Stadt. Für viele Betroffene sei es quasi ein "Ding der Unmöglichkeit", eine Bleibe zu finden.

Das Wohnungsproblem ließ sich bei Marcus auf kreative Weise lösen. Seit November 2017 lebt er im Don Bosco Jugendwerk, wo er gerade ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren darf. Später wolle er als Erzieher in einem Heim arbeiten, sagt Marcus. Schließlich habe er da Erfahrung. (Bernard Darko, dpa)

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