Kommunales

Station für Station zum Wegfall der Tickets – und nicht alles auf einmal: Das könnte eine machbare Strategie hin zum kostenfreien ÖPNV sein. (Foto: dpa)

23.02.2018

Kostenfreier ÖPNV braucht ortsspezifische Lösungen

Gratis-Busfahren: Die Idee der Bundesregierung birgt zahlreiche Fallstricke

Die Reaktionen auf die Idee der Bundesregierung, einen kostenlosen ÖPNV einzuführen, schwanken zwischen Begeisterung und Ablehnung. Dabei ist bei dem Projekt die genaue Betrachtung des Einzelfalls entscheidend. Manche Kommunen sind geeignet, andere weniger.

In Kaufering hatten sie einfach nur Pech. Anfang der 1990er Jahre, erinnert sich der in der Verwaltung der oberbayerischen Marktgemeinde für den ÖPNV zuständige Klaus Diekmann, da habe es schon mal einen kostenfreien Busverkehr für die rund 10 000 Einwohner gegeben. Das geschah nicht unbedingt, weil Kaufering ein in Blechlawinen erstickender Moloch wäre, sondern mehr als Komfortofferte für die Bürger. Die Stadt beauftragte einen privaten Betreiber, der wiederum stellte der Kommune eine jährliche Rechnung und diese holte sich die Mehrwertsteuer vom Fiskus wieder. „Aber bei einer Steuerprüfung 1993 hat das Finanzamt das untersagt“, so Klaus Diekmann. Kostenfreier ÖPNV war fortan nicht mehr rentabel für Kaufering.

In der nahen Kreisstadt Landsberg am Lech wiederum haben sie im vergangenen Jahr damit begonnen, den Busverkehr am 1. Samstag im Monat kostenfrei anzubieten – zumindest bis 13.30 Uhr. „Bis dahin haben die meisten Bürger ihre Wochenendeinkäufe ja erledigt“, schätzt Stadt-Sprecher Andreas Létang. „Das Angebot wird von den Einwohnern gut angenommen und wir werden es in diesem Jahr fortsetzen.“ Das zweite Ziel – den Landsbergern durchs kostenfreie Schnuppern Appetit machen, den Bus auch mal unter der Woche zu nutzen – erfüllte sich freilich nicht. Das Angebot bleibt also ein Zuschussgeschäft für Landsberg.

Die Stadt hatte mit der Offerte übrigens nicht nur der Tugend gehorcht, sondern auch der Not. Die Landsberger Einwohnerzahl wächst – 29 000 Bürger zählt man inzwischen – und der Individualverkehr wird zur Herausforderungen. „Der Lech fließt ja mitten durch unsere Stadt und wir haben nur zwei Querungen über den Fluss“, erläutert Andreas Létang. Immer längere Staus und dreckige Luft sind also die Folge. Die historische Altstadt wiederum mit ihren engen Straßen und dem Kopfsteinpflaster ist auch nicht wirklich für Autokolonnen ausgelegt.

Die beiden Beispiele – ein aktuelles und ein schon länger zurückliegendes – zeigen bereits die ganze Komplexität des Themas „kostenfreier ÖPNV“. Es gibt da nämlich nicht nur das eine Argument – weniger stinkenden Verkehr – sondern viele verschiedene Gründe. Insofern ist die Schwarz-Weiß-Malerei beim Thema – helle Begeisterung über die Mobilitätswende hier, zynische Skepsis über „Mitnahmeeffekte“ da – nicht angebracht. Man muss sich immer die jeweiligen finanziellen, sozialen, topografischen und logistischen Verhältnisse in einer Kommune anschauen, bevor man entscheiden kann, das Projekt zu versuchen. Vielleicht braucht es mehrere Anläufe, vielleicht gilt die Kostenfreiheit zunächst nur zeitlich befristet oder nur an bestimmten Tagen.

Mittelgroße Städte sind langfristig am geeignetsten

Es gibt kleine Städte, die damit gescheitert sind, wie beispielsweise das brandenburgische Templin (ja, dort wo Angela Merkel herkommt). Mit seinen 16 000 Einwohnern ist es zwar noch nicht zu groß, wohl aber flächenmäßig. Gemessen am Stadtterritorium zählt Templin als achtgrößte Kommune Deutschlands. Die Busse haben also vergleichsweise sehr lange Wege zurückzulegen, was sich negativ auf die Betriebskosten auswirkt. Da Templin selbst für ostdeutsche Verhältnisse arm ist, fehlen kompensatorische Einnahmequellen wie beispielsweise eine sprudelnde Gewerbesteuer.

Versuchen will man es künftig unter anderem im knapp 90 000 Einwohner zählenden Tübingen. Hier sind die Ausgangsbedingungen ungleich positiver als in Brandenburg: Dank der vielen Studenten und jungen Familien ist die baden-württembergische Kommune eine mit dem niedrigsten Altersdurchschnitt im ganzen Land. Gleichzeitig gelten die als vergleichsweise links und ökologisch eingestellten Tübinger – seit Jahren regiert dort mit Boris Palmer ein grüner Oberbürgermeister – solchen Verkehrsexperimenten gegenüber als aufgeschlossen. Dank des vergleichsweise hohen Lebensstandards ist das Tübinger Stadtsäckel gut gefüllt, man könnte also langfristig auch eigenes Geld zuschießen; das Pilotprojekt bezahlt ja bekanntlich der Bund.

Auch in Bayern muss man sich jeden Ort beziehungsweise Landstrich einzeln betrachten, inwieweit er für einen kostenlosen ÖPNV geeignet ist. Die Betriebskosten der Busse dürften im schneereichen und hügeligen Bayerwald beispielsweise höher liegen als im klimatisch milden und flachen Mainfranken. Anderseits hat etwa eine Touristen- und Studentenstadt wie Passau andere Ausgangsbedingungen als beispielsweise Hof. Die Hallertau ist dichter besiedelt (potenziell mehr Fahrgäste und damit mehr Verschleiß) als die nördliche Oberpfalz. Im Allgäu gibt es viel mehr Touristen – also potenzielle Nutzer außerhalb der Wohnbevölkerung – als im westlichen Mittelfranken.

Mittelgroße Städte sind freilich am ehesten für die Einführung eines kostenfreien ÖPNV prädestiniert. In kleinen Gemeinden fehlen meist die finanziellen und technologischen Rahmenbedingungen, oft werden sind sie auch nicht selbst Betreiber, sondern werden nur von Verbünden mit bedient. In Metropolen wie München scheint die Umsetzung dagegen fraglich.

Freilich: Nicht kosten´frei – aber mit einem Fahrpreis von einem Euro für den gesamten Tag – machte Wien gute Erfahrungen. Die größte Stadt, die es bisher ohne Billett versuchte, die 450 000 Einwohner starke estnische Hauptstadt Tallinn, verzeichnete eine mehr als durchwachsene Bilanz: nur 1,4 Prozent mehr Passagiere; und davon die meisten keine früheren Autofahrer, sondern Radler und Fußgänger, denen es bei schlechtem Wetter dann doch kommoder im warmen Bus erschien. (André Paul)

Kommentare (1)

  1. alexander p. am 23.02.2018
    Aha. Jeder soll wieder sein eigenes Süppchen kochen. Der beste Vorschlag ist, nur an manchen Tagen den ÖPNV kostenfrei anzubieten. Super. Sagen wir mal, der Mittwoch ist für alle frei. Dann zahle ich am Ende mehr für 4 Einzelkarten (Mo+DI+Do+Fr) als für eine gesamte Wochenkarte um in die Arbeit zu kommen. So ein Quatsch......
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