Kommunales

04.11.2011

Neue Ideen für das Land

Der demographische Wandel trifft besonders ländliche Gebiete – doch deren Landräte zeigen viel Kreativität im Kampf gegen den Bevölkerungsrückgang

Eine leere Gaststätte in Wunsiedel. Das Licht ist schummrig und Rauchschwaden erschweren die Sicht. Nur an einem Tisch sitzt eine kleine Gruppe Männer und diskutiert über ihre Region. „Früher“, schwärmt ein Rentner im Janker, „gab es hier ausreichend Arbeit und Nachtlokale.“ Doch dann habe der Mauerbau begonnen und sich der Landkreis aufgrund seiner ungünstigen Lage nur noch in eine Richtung entwickeln können. „Dadurch war nichts mehr, wie es einmal war“, fällt ihm ein zahnloser alter Mann ins Wort und nippt an seinem Weißbier. Die Löhne seien gesunken, viele weggezogen und der Staat nicht ausreichend eingesprungen, fährt der Senior fort. „Nach Ende des Kalten Krieges kam dann die Globalisierung, und viele Betriebe sind nach Tschechien abgewandert.“ Die Porzellanindustrie brach zusammen und die Arbeitslosigkeit stieg von Jahr zu Jahr. „Im Saldo haben wir vom Mauerfall bis Ende 2004 rund 12.000 Arbeitsplätze verloren“, bestätigt der Wunsiedeler Landrat Karl Döhler (CSU) der Staatszeitung.
Seit 2005 wächst die Zahl der Arbeitsplätze in Wunsiedel
Der Landkreis kam wegen seiner Geographie als einer der ersten in den Teufelskreis, in dem sich aktuell viele Regionen in strukturschwächeren Gebieten befinden: Älteren mangelt es an Ärzten, Unternehmen an Kunden und Jugendlichen an Ausbildungsplätzen. In der Folge ziehen immer mehr Menschen in Großstädte und verschärfen damit das Problem. Im Kreis Wunsiedel ist die Geburtenrate zwar immer noch niedriger als die Sterberate, doch die besorgniserregende Abwanderung konnte gestoppt werden. Seit 2005 wächst sogar wieder die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze. Döhlers Rezept: Durch flexible Betreuung und Bildung ein familienfreundliches Klima schaffen.
Dazu wurden Kindergärten ausgebaut und Tagesmütter angeheuert, die rund um die Uhr für die Kinder von Alleinerziehenden sorgen. Wenn beide Elternteile arbeiten müssen, kümmern sich Kindertagesstätten sieben Tage die Woche um den Nachwuchs. Zudem wurde verstärkt in Schulen investiert: „Von der Grundschule über die Mittelschule bis zum Gymnasium sind jetzt alle Schularten in wenigen Minuten erreichbar“, erzählt der Landrat nicht ohne Stolz. Nur eine Fachhochschule fehle noch, aber deren Bau sei bereits in Planung.
Ein weiterer Gewinn seien die Kooperationssprogramme zwischen Schule und Wirtschaft. Seit die Scheuklappen fallengelassen wurden, profitierten die Unternehmen von der Rekrutierungsarbeit vor Ort und die Bildungseinrichtungen von Spenden seitens der Betriebe. Nicht zuletzt sei das ehrenamtliche Engagement ein Schlüssel zum Erfolg. „Im Gegensatz zu anderen Regionen haben wir dieses Potenzial schon gesehen, bevor die Arbeitslosigkeit bei 20 Prozent lag“, brüstet sich Döhler.
Zur Fachkräftesuche von Deggendorf nach Bulgarien
Eine andere Idee hatte der Deggendorfer Landrat Christian Bernreiter (CSU). Damit dem Landstrich nicht die Facharbeiter ausgehen, fuhr er zusammen mit dem Geschäftsführer der ansässigen Agentur für Arbeit Udo Karro zur Lehrlingssuche nach Bulgarien. Durch die vielen unbesetzten Lehrstellen war dies für ihn der einzige Weg, Firmen von der Abwanderung in Metropolregionen abzuhalten. „Ein Teil wird sicher zurückkehren, viele werden aber auch bleiben“, glaubt Bernreiter. Da am Schwarzen Meer die Kombination aus Ausbildung und Arbeitspraxis fehle, würden beide Seiten nicht nur finanziell von diesem Austausch profitieren. Einzige Voraussetzung: Die zukünftigen Auszubildenden müssen deutsch sprechen und die Arbeitsagentur muss den Bedarf anerkennen.
Viel Eigeninitiative bewies der Leiter der Miltenberger Kreisverwaltung Roland Schwing (CSU). Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung gründete er eine Stiftung zur Förderung des Wohls für Senioren. Diese unterstützte bisher mit knapp 2 Millionen Euro zusätzliche Maßnahmen von stationären Altenpflegeeinrichtungen und ambulanten Diensten. Mangels staatlicher Stiftungsmittel hätten diese sonst nicht realisiert werden können und wären von den Trägern auch nicht bezahlt worden. „Wir wollen etwas für die älteren Landkreisbürger tun, nicht für die Einrichtungen und Dienste“, betont Schwing. Dazu gehören beispielsweise eine verbesserte Freizeitgestaltung, die Schulung pflegender Angehöriger oder Fortbildungsmaßnahmen zur Qualitätssteigerung. In Zeiten einer schwierigen kommunalen Haushaltssituation sei dies ein wertvolles Instrument für die Umsetzung der Maßnahmenempfehlung des „seniorenpolitischen Gesamtkonzeptes“. Finanziert wird die Stiftung, indem alle 32 Landkreisgemeinden jährlich pro Einwohner einen Solidarbeitrag von 50 Cent zahlen. Der Landkreis stockt diesen Betrag anschließend noch einmal in gleicher Höhe auf.
Ohne staatliche Förderung gehe es aber nicht, denn der demographische Wandel wird teuer, prognostiziert Döhler. „Der ungerechte Finanzausgleich ist der Grund, warum wir überhaupt in diese Situation gekommen sind.“ Er fordert deswegen, das Problem an der Wurzel zu packen und die Einwohnerveredelung abzuschaffen. Dabei werden Städten mehr Finanzmittel zugesprochen, weil diese überproportional höhere Infrastrukturkosten hätten und mehr Leistungen für das Umland bereitstellen müssten. „Die Begründung ist jedoch heute ins Gegenteil verkehrt und repräsentiert nicht mehr die Welt“, reklamiert der Landrat. Er erhofft sich daher vom laufenden Kabinettausschuss zum kommunalen Finanzausgleich eine Neuregelung oder alternativ eine Aufstockung des Fördertopfes. „Die Städte sollen uns als Partner sehen und nicht aussaugen“, klagt Döhler.
Änderung des kommunalen Finanzausgleichs gefordert
Die Menschen im Fichtelgebirge sehen dies genauso: „Alles schrumpft“, seufzt die Chefin des Gasthofes, die sich inzwischen zu ihren Stammgästen gesellt hat. Der Wunsiedeler Bürgermeister Karl Willi Beck hat sich deshalb zum Ziel gesetzt, die 10.000-Einwohnermarke zu erklimmen. „Das bringen wir aber nie zusammen“, sagt die Wirtin resigniert. So müssen die Menschen vorerst weiter ohne Autobahnanschluss und Bahnhof leben. Wegziehen wollen sie trotzdem nicht: „Hier bin ich geboren und hier sterbe ich“, verspricht der Rentner. Und ein gepiercter Jugendlicher im Blaumann ergänzt: „So lange das Helle nur 1,60 Euro kostet, bleibe ich hier.“
> DAVID LOHMANN

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