Kommunales

Die Leser könnten schon bald selbst bestimmen, welche Bücher welchen Themenkatalogen der Bibliotheken zugeordnet werden. Foto: Bilderbox

07.05.2010

Schöne neue Wissenswelt

Dank Forschern des Münchner Fraunhofer-Instituts stehen Bayerns Archive und Bibliotheken vor einer digitalen Revolution

Marion Sedelmayer (50) sitzt an einem großen Schreibtisch, neben ihr stapeln sich Bücher, große, kleine, alte, neue, italienische, deutsche, englische. Es sind bestimmt 50 Stück. Eines liegt vor ihr aufgeschlagen. Sedelmayers Finger blättern die Seiten in Sekundenschnelle um, ihr Blick fliegt über den Text. Manchmal sieht sie auf den Bildschirm vor sich, tippt etwas in die Tastatur. Die kleine Frau mit den kurzen blonden Haaren arbeitet in der Bayerischen Staatsbibliothek in der Ludwigstraße in München. Sedelmayer ordnet den neuen Büchern Schlagwörter zu, damit die Bibliothekbesucher schneller finden, was sie brauchen. Sie geht einem alten Beruf nach, bei ihrer Arbeit braucht sie eine schnelle Auffassungsgabe, die Konzentration darf sie nie verlieren – und das nun schon seit über drei Jahrzehnten. Die Besucher suchen die Schlagwörter per Handy Nicht weit von Sedelmayers Schreibtisch entfernt, im Münchner Westen, steht Lars Müller (28) in einem kahlen Raum, in der Hand hält er einen Mini-Projektor, auf den eine Kamera montiert ist. Schmal, blond, blasse Haut, zielt er mit dem merkwürdigen Konstrukt auf die weiße Wand vor ihm. Ein Bildschirm erscheint, Lars Müller grinst. Er hat Grund zur Freude. Nicht immer funktioniert seine Erfindung. Es ist ein Prototyp, mitten in der Entwicklung, irgendwann soll es ein Mobiltelefon sein. Müller streckt seinen Zeigefinger aus und tippt auf der projizierten Tastatur wie auf einem Touchscreen. „Bald ist dieses Handy Wirklichkeit“, sagt er und strahlt wie ein kleiner Junge. Für ihn liegt die Zukunft in der digitalen Welt, er träumt davon, sie mitzugestalten. Lars Müller und Marion Sedelmayer kennen sich nicht. Aber er könnte ihr Leben verändern. Müller ist Informatiker des Fraunhofer Instituts ESK, Einrichtung Systeme der Kommunikationstechnik. Seit November 2008 entwickelt er eine Funktion für Mobiltelefone, die Bibliothekaren und Dokumentaren die Arbeit erleichtern soll. Irgendwann kann es sie vielleicht ersetzen. Bei dem Projekt arbeitet das Fraunhofer Institut ESK mit der Firma KTS-Informations-Systeme GmbH in München zusammen, die seit 30 Jahren Datenbanken für Bibliotheken entwickelt. Das Unternehmen will die neue Funktion von Lars Müller auf den Markt bringen. Dasbayerische Wirtschaftsministerium fördert das Projekt, die Bayerische Staatsbibliothek ist ein potenzieller Kunde. Der Fortschritt ist eine digitale Schnittstelle im Mobiltelefon, über die Nutzer von Fachbibliotheken die Bücher, die sie lesen, direkt verschlagworten können. Die Leser sollen die Arbeit von Marion Sedelmayer übernehmen. Mit der Handykamera müssen sie dafür einfach das Buch fotografieren. Automatisch wird das Bild an einen Server geschickt, der dem Telefon die bibliografischen Daten zum Titel übermittelt. Anschließend loggt sich das Handy auf die Seite einer virtuellen Community ein, wo dem Nutzer eine Schlagwortliste zur Verfügung steht, aus der er die passenden Wörter zu seinem Buch anklicken und seiner Lektüre zuordnen kann. Die Benutzeroberfläche der Community-Seite entwickelt der Fraunhofer-Partner KTS, das ESK arbeitet daran, dass die Leser die Schlagwörter am Handy setzen können. „Die Dokumentare von Fachbibliotheken sind ausgelastet. Oft können sie die Schlagwörter gar nicht mehr sorgfältig zuordnen. Die Leser-Community kann die Arbeit besser machen“, sagt Lars Müller. „Mit unserer neuen Funktion können die Fachbibliothekennutzer einfach nebenbei verschlagworten, egal wo sie sind: in der U-Bahn, am See oder auf dem Sofa.“ Die Leser können die Schlagwörter unter anderem aus der Normdatei der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main auswählen, die auch Marion Sedelmayer benutzt. Ihr Büro liegt in der hinteren Ecke der Staatsbibliothek. Die Decken sind hoch, in den Regalen einer mannshohen Schrankwand reihen sich schwere Bände verschiedener Lexika aneinander, Brockhaus, Meyers Enzyklopädie, Lessico Universale Italiano. Es ist ganz ruhig in dem Zimmer, nur manchmal klappert es, wenn Sedelmayer oder ihre Kollegin etwas in den Computer tippen. In den späten 1970er Jahren hat Sedelmayer noch für den Zettelkatalog gearbeitet. Mit Füller hat sie in Schönschrift auf Katalogblätter gemalt. Heute verstauben die Zettelkasten, die Blätter vergilben im Keller der Bibliothek. Sie lacht, wenn sie sich an diese Zeit erinnert, „wie in der Steinzeit“. Sie sagt, der Fortschritt bringt Arbeitserleichterungen. Die Idee, dass die Nutzer bei der Verschlagwortung mitarbeiten sollen, findet sie gut. Sie sagt aber auch, es könnte anders kommen. „Die Öffnung des Schlagwortkatalogs kann auch notorische Querulanten anziehen. Ich bekomme schon jetzt E-mails, in denen es etwa heißt: ‘Meine Dissertation ist ganz falsch verschlagwortet´“: Die Hinweise, die ihr bei der Arbeit weiterhelfen, kann sie jeden Monat an einer Hand abzählen. „Es werden sich große Debatten entzünden“, prophezeit sie. „Bei sozialwissenschaftlichen Begriffen sind schnell Weltanschauungen im Spiel.“ Im offiziellen Schlagwortkatalog werden zum Beispiel Orte mit ihrem deutschen Namen gemäß Brockhaus bezeichnet, also Florenz, nicht Firenze. „Allein das kann schon ein Quell für nationale Eitelkeiten sein“, sagt Sedelmayer und fügt hinzu: „Das Verschlagworten ist eine systematische Arbeit, man muss sie leidenschaftSlos machen, unabhängig vom wechselnden Sprachgebrauch und von Überzeugungen.“ Sie fürchtet, dass die Mitarbeit der Leser eine „Entprofessionalisierung“ ihres Berufs mit sich bringen kann. Müller sieht das anders. „Es sind Fachbibliotheken nutzer. Sie wollen die Bücher nach ihren eigenen Kriterien sortieren und mit anderen darüber diskutieren; und sie kennen sich in der Materie sehr gut aus“, sagt er. Um den Qualitätsstandard des Schlagwortkatalogs zu wahren, sollen die Mitglieder der Fachbibliotheken über ein Reputationssystem gegenseitig die Arbeit bewerten

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