Kommunales

30.04.2010

Vögel zwitschern zwischen den Sperrzäunen

Mit 17 000 Hektar ist das „Grüne Band“ an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze Deutschlands größtes Naturschutzprojekt

Drohend ragten die Absperrungen empor, zweieinhalb Meter hohe, engmaschige, scharfkantige Streckmetallzäune. Ein abschreckender Anblick, von dem sich aber ein paar kleine Wesen nicht beeindrucken ließen. Im Gegenteil – den Braunkehlchen kamen die Sperranlagen im Todesstreifen an der innerdeutschen Grenze gerade recht: als Balzplatz und als Startpunkt für ihre Jagdflüge auf Insekten. Deshalb habe man die sperlingsgroßen Tierchen im Grenzstreifen leicht entdecken können, sagt Kai Frobel im Steinachtal bei Fürth am Berg im Landkreis Coburg: Dort suchte man nur die Zäune mit dem Fernglas ab, „da saßen sie girlandenartig drauf“. Die Sperrzäune sind glücklicherweise längst abgerissen. Die respektlosen Vögelchen dagegen balzen auch 20 Jahre nach der Grenzöffnung noch fröhlich im früheren Todesstreifen. Der trägt längst einen anderen, wohlklingenderen Namen, nämlich „Grünes Band“. Mit einer Länge von 1393 Kilometern und einem Umfang von rund 17 000 Hektar ist es das größte Naturschutzprojekt Deutschlands. Dass die Braunkehlchen – wie rund 600 weitere gefährdete Tier- und Pflanzenarten, die auf der „Roten Liste“ stehen – hier eine Zuflucht finden, haben sie vor allem Kai Frobel zu verdanken, Projektleiter Grünes Band beim bayerischen Bund Naturschutz (BN) sowie beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (Bund). Seine Biografie ist mit dem Naturschutzprojekt so eng verwoben wie kaum eine andere. Was auch daran liegt, dass er nur wenige hundert Meter von den Sperrzäunen entfernt aufgewachsen ist, nämlich in Hassenberg im Landkreis Coburg: „Von meinem Kinderzimmerfenster aus konnte ich die Grenze sehen.“ Schon als Jugendlicher interessiert er sich für die Natur, besonders für Vögel. Und entdeckt bald, dass ausgerechnet im Todesstreifen mehr Vögel und vor allem seltenere Arten piepsen, trillern und zwitschern als anderswo. Als 18-Jähriger schreibt er eine Arbeit über die Vogelwelt im Steinachtaler Grenzgebiet, mit der er 1977 den ersten Preis im Wettbewerb „Jugend entdeckt Natur“ des bayerischen Umweltministeriums erringt. Kein Wunder, schließlich handelt es sich dabei um die erste systematische naturkundliche Erfassung in der Grenzregion. Den westdeutschen Grenzpolizisten und Bundesgrenzschutz-Beamten ist der junge Mann im Parka damals schon wohlbekannt. Oft treffen sie ihn frühmorgens oder spätabends in der Nähe des Grenzstreifens, wie er die Gegend mit dem Fernglas absucht. Es sind freundliche, im Rückblick aber auch skurril anmutende Begegnungen. Zum Beispiel in jenem Heidegebiet in der Nähe von Neustadt bei Coburg, wo Frobel häufig den nachtaktiven Ziegenmelker belauschte. „Da bin ich jedes Mal vom BGS kontrolliert worden.“ Den Grund erfährt er nach der Grenzöffnung: 20 Meter von der Stelle entfernt, an der er sein Auto parkte, war der Ausgang eines der berühmt-berüchtigten Tunnels, durch den die Stasi angeblich Spitzel in den Westen schleuste – was der BGS offenbar schon damals wusste. Auch die Stasi behält den jungen Mann im Auge. Nicht nur wegen seiner Streifzüge im Grenzgebiet, sondern vor allem wegen seiner Kontakte zu ostdeutschen Naturschützern. Man fürchtet, dass „zersetzende Aktivitäten“ wie die Umweltdiskussion womöglich auch auf die DDR übergreifen könnten. Entsprechend akribisch dokumentieren „Horch und Guck“ zahlreiche Briefe und Telefonate sowie die Fahrten, die Frobel seit Anfang der 1980er Jahre regelmäßig nach Sonneberg unternimmt, um dort Vorträge zu halten. 120 Seiten umfasst seine Stasi-Akte, mit Vermerken wie „F. tritt als Inspirator blockübergreifender, feindlich-negativer Aktivitäten auf dem Gebiet des Umweltschutzes in Erscheinung“. Was die Stasi wohl von jener Untersuchung gehalten hätte, die rund 30 Vogelschützer, unter ihnen Kai Frobel, zwischen 1979 und 1984 in den Landkreisen Coburg, Kronach, Lichtenfels und Bamberg durchführten? Über 1000 Quadratkilometer umfasst das Areal, das sie in diesen fünf Jahren systematisch absuchen, um zu dokumentieren, wo welche Vogelarten leben. Tausende von Stunden sind sie unterwegs, um die gefiederten Tierchen zu beobachten und zu belauschen – eine der größten vogelkundlichen Untersuchungen Bayerns. Auch 130 Kilometer des Grenzgebiets werden auf diese Weise kartiert. Die Resultate bestätigen Kai Frobels frühere Ergebnisse: dass nämlich der Todesstreifen vielen seltenen Arten als Lebensraum dient. Vom Braunkehlchen beispielsweise, erinnert sich der 50-Jährige, habe man 100 Brutpaare im Untersuchungsgebiet festgestellt, „davon 92 im Grenzstreifen“. Ausgerechnet die verhasste Grenze mit ihren heimtückischen Grausamkeiten wie Minen und Selbstschussanlagen sichert das Überleben seltener Vögel – ein Fazit, das manche aufrüttelt. Und das die Basis dafür bildet, dass die wertvollen Gebiete später nicht einfach unter Straßen und Häusern verschwinden. Als die Mauer fällt, ist Kai Frobel und vielen anderen klar, dass schnell etwas passieren muss, damit Braunkehlchen, Ziegenmelker und Co. überleben können. Bei einem mittlerweile legendären Treffen am 9. Dezember 1989 in der Hofer Gaststätte „Eisteich“, zu dem über 400 Naturschützer aus Ost und West anreisen – einige kommen sogar aus Berlin und Brandenburg –, wird eine entsprechende Resolution verabschiedet. Nur: Das Projekt braucht einen Namen. Todesstreifen, Demarkationslinie, das ist schließlich Vergangenheit. „Wie wär’s mit ‚Grünes Band’?“ schlägt Kai Frobel vor. Dass sich unter diesem Titel eine Erfolgsgeschichte im Naturschutz entwickeln wird, ist in den ersten chaotischen Nachwende-Jahren nicht absehbar – auch wenn der damalige Bundesumweltminister Klaus Töpfer (CDU) das Grüne Band schon mal als „Tafelsilber der deutschen Einheit“ bezeichnet. Trotzdem gehen manche der wertvollen Areale verloren, unter anderem deshalb, weil Landwirte hier illegal Flächen umbrechen. „Da gab’s erhebliche Konflikte“, sagt Frobel. Die sind weitgehend ausgestanden. Der Bauernverband akzeptiert das Naturschutz-Projekt mittlerweile, zumindest dessen Kernbereich im ehemaligen Todesstreifen. Schließlich profitieren viele Landwirte vom Grünen Band: indem sie beispielsweise staatlich geförderte Landschaftspflegearbeiten durchführen, um zu verhindern, dass Flächen allmählich überwuchert werden. Heute sind noch etwa 80 Prozent der Areale am Grünen Band intakt. 109 verschiedene Biotoptypen sind in dieser Lebenslinie zwischen Ostsee und tschechischer Grenze zu finden. Nicht nur das macht das Gebiet so wertvoll, sondern vor allem die Tatsache, dass es sich dabei um den einzigen zusammenhängenden, länderübergreifenden Biotopverbund Deutschlands handelt. Eine Art „grüne Infrastruktur“, wie es Kai Frobel formuliert, die den Arten eine gewisse Bewegungsfreiheit in Nord-Süd-Richtung ermöglicht. Wichtig gerade in Zeiten des Klimawandels, denn so können Tierarten wandern, wenn sich die äußeren Bedingungen ändern. Übrigens nicht nur auf den 1393 Kilometern, die das Grüne Band innerhalb Deutschlands misst, sondern auch darüber hinaus. Seit 2002 wird nämlich an der Idee gearbeitet, das Grüne Band europaweit zu verwirklichen: 12 500 Kilometer vom finnisch-russischen Eismeer bis hinunter zum Schwarzen Meer. Ein Gedanke, der sogar im kürzlich unterzeichneten Koalitionsvertrag zwischen den neuen Regierungsparteien CDU, CSU und FDP auftaucht. Man wolle „die Entwicklung eines ‚Grünen Bandes Europa’ anstoßen“, heißt es darin. Was Braunkehlchen, Zigenmelker und Co. erst mal herzlich egal sein dürfte. Bis jetzt fühlen sie sich noch ganz wohl in ihren Lebensbereichen – erstere in den offenen Altgrasbeständen, wie sie zum Beispiel im Steinachtal südlich von Fürth am Berg zu finden sind, letztere auf den Heideflächen bei Tettau oder Neustadt bei Coburg. Allein in Nordbayern und im angrenzenden Thüringen gibt es zahlreiche Biotoptypen entlang des Grünes Bandes zu entdecken. Kalkmager- und Trockenrasen etwa, wo Silberdistel, Kuhschelle, Seidelbast, Enzian und seltene Orchideenarten wie Händelwurz und Knabenkraut gedeihen. Oder das Rottenbacher Moor mit seinen Torfmoosen und Wollgräsern. Oder Kalkbuchenwälder, wo auch das Rote Waldvögelein, eine Orchideenart, zu finden ist. Oder Feuchtwiesen wie die Bischofsaue bei Bad Rodach, Heimat für die graue Kratzdistel, die Trollblume und für das Blaukehlchen. Nicht zu vergessen die Schilfflächen im Landkreis Hassberge und die naturnahen Wiesen im angrenzenden Thüringer Grabfeld, wo die seltene Wanstschrecke Unterschlupf findet. Und das Naturschutzgebiet Föritzgrund zwischen Schwärzdorf und Sichelreuth, ein Paradies nicht nur für die Bachmuschel, sondern auch für geschützte Libellenarten wie die Zweigestreifte Quelljungfer und die Grüne Keiljungfer. Eine Liste, die man seitenlang fortsetzen könnte. Das Grüne Band, meint Kai Frobel, habe eben „eine überragende Funktion für den Naturschutz“ – aber auch darüber hinaus: Es sei „ein lebendiges ökologisches Denkmal“, ein Mahnmal, das an die brutale Teilung Deutschlands erinnert. „Damit“, sagt Frobel, „macht es den nachfolgenden Generationen klar, in welchen Dimensionen dieser Riss durch das Land ging.“ (Brigitte Degelmann)

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