Kommunales

Viele Ausländer halfen den Haitianern nach dem Erdbeben,. Foto: MHW

19.02.2010

Wenn jede Minute zählt

Ein 47-jähriger Münchner half als Einsatzleiter in Haiti – die schrecklichen Erinnerungen lassen ihn nicht mehr los

Es wird schlimmer, je länger ich wieder in Deutschland bin.“ Key Kretschmer träumt jede Nacht von Haiti. Der Staat, der im Januar von einem Erdbeben erschüttert wurde, lässt ihn nicht los. „Ich träume von unseren Einsätzen, wie wir durch die Gegend ziehen“, sagt der Münchner über seinen mittlerweile mehr als drei Wochen zurückliegenden Einsatz. Der 47-Jährige hat fast eine Woche lang als Einsatzleiter des deutschen Medizinischen Katastrophen-Hilfswerks (MHW) auf der Karibikinsel ein 22-köpfiges Rettungsteam koordiniert: Medizinisches Fachpersonal, Rettungstechniker und Hundeführer mit fünf Spürhunden. „Durch die Entfernung habe ich erst nicht an einen Einsatz gedacht“, erinnert er sich. Dann kam der Anruf vom Präsidenten des MHW. Die Organisation ist ein Zusammenschluss von Rettungsdienstunternehmen und Kooperationspartnern, die bei Katastrophen wie Tsunami oder Erdbeben Hilfe leisten. Kretschmer hatte keine Zeit, dann sagte er doch zu: „Wenn man mich braucht, kann ich nicht anders.“ Überall in der Stadt hing der Verwesungsgeruch Der Münchner ist seit 1977 im Rettungsdienst. Er ist schon als Schulbub hinten im Sanker mitgefahren, hatte einen Rettungsdienst in München. Jetzt organisiert er Krankenflugtransporte. „Es gibt keinen Fleck auf der Welt, wo wir nicht mal einen Patienten hingebracht haben“, erzählt er. Sein letzter ehrenamtlicher Einsatz war die Tsunami-Katastrophe, die 2004 weite Küstenteile Indonesiens, Indiens und Thailands verwüstet hatte. Nach Haiti verirrt sich kaum ein Tourist. Während der Osten der Insel Hispaniola, die Dominikanische Republik, als karibisches Urlaubsziel bekannt ist, zählt der westliche Staat zu den ärmsten Ländern der Welt. Viel mehr wusste Kretschmer auch nicht vor seinem Einsatz. Haiti ist politisch instabil. Vier Fünftel der Haitianer leben von maximal zwei Dollar pro Tag. Dazu das Erdbeben. Ein Einsatz nach einem Beben ist ein Wettlauf gegen die Zeit, je früher mit der Suche begonnen wird, desto höher sind die Überlebenschancen. 72 Stunden nach der Erosion sinkt die Chance rapide, Verschüttete lebend aus den Trümmern zu bergen. Um 11 Uhr trafen sich die Freiwilligen zum ersten Mal, Kretschmer organisierte Flüge für die Truppe und knapp vier Tonnen Gepäck, nachmittags folgte die zweite Besprechung. Der Flughafen der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince war zu dem Zeitpunkt gesperrt. Der Einsatzleiter rief in einem dominikanischen Hotel an, in Punta Cana hatte er 2004 seinen Urlaub verbracht. Zufällig wurde er mit einem jungen Deutschen, Nikolai Tepper, verbunden, der dort ein Praktikum machte. „Der Junge war Feuer und Flamme und hat sich reingehängt, mit dem habe ich die ganze Nacht durchtelefoniert“, so Kretschmer. „Er hat uns einen Bus und 500 Liter Trinkwasser organisiert – und das zu einem Preis, den wir bezahlen konnten.“ Am nächsten Morgen ging es los, für eine inhaltliche Vorbereitung blieb keine Zeit. „Ich habe bewusst nicht mehr ferngesehen, damit ich nicht in Panik verfalle“, erinnert sich der Einsatzleiter. Er ließ sich ein Dossier nach Punta Cana schicken. Am Flughafen nahm Nikolai die Deutschen in Empfang – und schlug Kretschmer einen Handel vor: „Hier ist der Bus, hier ist das Wasser. Du kriegst den Bus und das Wasser nur, wenn ich mitkommen darf“, sagte er. Kretschmer antwort ihm brüsk: „Das geht nicht, Bursche – du hast keine Ahnung von Katastrophenschutz, du weißt nicht, was dich erwartet.“ Am Ende konnte Nikolai sich durchsetzen. An einem militärischen Stützpunkt der Grenzstadt Jimani, an dem Hilfsgüter nach Haiti aus- und Verletzte eingeflogen wurden, war die Reise vorerst zu Ende. „Es war noch hell, aber sie haben uns nicht über die Grenze gelassen.“ Am Vortag war ein Hilfsgüter-Konvoi überfallen und geplündert, zehn Leute ermordet worden. Die Zwangsübernachtung war ein Ärgernis. „Die 72 Stunden sind immer näher gekommen“, sagt Kretschmer und ergänzt: „Die Hundeführer waren unzufrieden, weil ihre Hunde nach Lebenden suchen sollten und nicht nach Toten.“ Am nächsten Morgen erreichten sie Port-au-Prince. „Erstaunlicherweise hat man höchstens mal eine umgestürzte Gartenmauer gesehen“, erinnert sich Kretschmer an die Fahrt ins Ungewisse. „Ich hatte erwartet, dass wir durch Trümmer fahren, wo Leichen herumliegen. Es war gut, das Camp zu sehen, bevor wir traumatisiert worden sind.“ 30 Minuten später startete der erste Einsatz. „Im Flughafen waren höchstens Risse, 800 Meter entfernt war alles zerstört. Eine fiktive Grenze – auf der einen Seite passiert nichts und auf der anderen Seite ist alles kaputt.“ Auf den Fotos des Einsatzleiters ragen verbogene Stahlstreben aus Steintrümmern. „Die Toten lagen auf der Straße, zugedeckt mit Pappe oder irgendeinem Fetzen, zum Teil haben ihnen die Köpfe gefehlt.“ Die Dächer der Wellblechbaracken hätten den Menschen wohl den Kopf abgetrennt. Kretschmer hat in seinem Leben viele Leichen gesehen. „Was mich erschüttert hat, ist, dass in dem Geröll Leichen lagen, Teile herausgeschaut haben und Bagger die Toten mit dem Geröll abtransportiert haben.“ Die Erdbebenopfer werden außerhalb der Stadt in Massengräbern beerdigt, da Seuchengefahr droht. Die Verwesung setzt nach wenigen Stunden ein, drei Tage war das Beben her, bei Temperaturen von 40 Grad. Der gelbe Staub, der sich über Port-au-Prince gelegt hatte, war verschwunden – der Verwesungsgeruch lagerte überall. „Wenn man aus der verkehrten Richtung gekommen ist, hat man gerochen, wo genau die Toten liegen.“ Für manche sei das unerträglich. Mit Masken, ätherischen Ölen und verstopften Nasen sc

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