Kultur

Der Wilde aus Amazonien, Christian Miedl, tötet den Europäer, Vasily Khoroshev. (Foto: W. Hösl)

15.07.2016

Das Heute - inhaltsleer bebildert

Mauricio Kagels "Mare Nostrum" bei den Münchner Opernfestspielen

Noch sind es nur zwei Schwimmwesten, die im leuchtenden Orange die Szene bestimmen. Bald wird es ein riesiger Berg sein, der das ganze Podium einnimmt. Es sind gespenstische, grauenvolle und erschütternde Assoziationen, die Frauke Meyer mit diesem Bild wirkungsvoll freisetzt. Allerdings schafft es die Regisseurin nicht, diese Assoziationen schlüssig durchzuführen – weil sie sich dem Erzählen strikt verweigert. Schlimmer noch, Meyer hat im Grunde nichts zu erzählen. Dies ist das zentrale Problem ihrer Inszenierung des Musiktheaters Mare Nostrum von Mauricio Kagel, das jetzt im Rahmen der Münchner Opernfestspiele in der Reithalle aufgeführt wurde. Dabei erzählt der 2008 verstorbene, argentinisch-deutsche Komponist in dem Werk ziemlich viel. Als das Werk 1975 entstand, konnte Kagel überdies nicht ahnen, wie aktuell der Werktitel heute ist. Denn Mare Nostrum war eine Operation der italienischen Marine, mit der Flüchtlinge aus dem Mittelmeer gerettet wurden. Vor zwei Jahren wurde diese erfolgreiche Mission durch die billigere EU-Operation „Triton“ ersetzt, mit bekanntermaßen fatalem Ergebnis: Die Zahlen der Toten schnellten wieder sprunghaft nach oben. Und so stehen die orangefarben leuchtenden Schwimmwesten, die in Massen tagtäglich an die Strände Europas gespült werden, für ein kollektives Versagen – politisch, gesellschaftlich, ethisch. Vor diesem aktuellen Hintergrund erscheint die Handlung von Kagels Musiktheater umso brisanter. In Kagels Mare Nostrum geht es um die Entdeckung, Befriedigung und Konversion des Mittelmeerraums durch einen Stamm aus Amazonien. Nicht die Europäer sind die Eroberer, sondern die eigentlich Eroberten. Kagel kehrt den Lauf der Geschichte um, mit viel tragikomischen Humor. Vermischt man den Opernstoff von Kagel und Meyers Regie, ergibt sich ein Zerrbild des Heute: Die Flüchtlinge sind faktisch der Stamm aus Amazonien. Genau hier beginnen jedoch die Fragen, die Meyer leider offen lässt. Am Ende wird der Europäer (eindrücklich: Contratenor Vasily Koroshev) von dem Wilden aus Amazonien (sehr präsent: Bariton Christian Miedl) umgebracht.

Noch dazu humorlos


Sieht Meyer also die Flüchtlinge als gefährliche Eroberer oder als Rächer aus verlorener Ehre? Stellen die Flüchtlinge also eine Bedrohung dar oder sind die Schwimmwesten ein Mahnmal? Meyer hält sich bedeckt. Statt zu inszenieren, kultiviert sie die inhaltsleere, rein dekorative Bebilderung – noch dazu humorlos. Das passt bestens zum Gesamtkontext der Bayerischen Staatsoper. In ermüdender Regelmäßigkeit werden selbst hochbrisante Opernstoffe nicht dazu genutzt, um den Finger auf die Wunden des Heute zu legen. Das kluge, aufrüttelnde Regietheater macht sich an der Isar leider oftmals sträflich rar. Überdies kultiviert Meyers Regie eine Reduktion der Mittel, die nicht durch das Narrative aufgefangen wird. Eine zähe, gänzlich unszenische Abstraktion kommt heraus, die den knapp 75-minütigen Abend unendlich lang erscheinen lässt. Was dieses Projekt rettet, ist die brillant gesetzte Musik von Kagel. Unter der feinsinnigen, umsichtigen Leitung von Richard Whilds wurde die Partitur wirkungsvoll in Szene gerückt. Im reduzierten Kammerensemble aus Holzbläsern, Zupfinstrumenten, Cello und Schlagwerk mischen sich geräuschhafte Klanglichkeiten mit einer einnehmenden Melodieerfindung. Das Ganze würzt Kagel mit Zitaten aus der europäischen Musikgeschichte. Sie alle repräsentieren einen kulturellen Imperialismus, passend zum Thema von Mare Nostrum. Deswegen erklingt der berühmte Türkenmarsch aus Mozarts Klaviersonate Nr. 11 KV 331, allerdings köstlich verdreht und entstellt. Dazu gesellen sich Lautakrobatik und subversive Performance. Kagels Werk wirkte weitaus frecher, frischer und jünger als die Produktionen bei der diesjährigen Münchener Biennale für neues Musiktheater. (Marco Frei)

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