Kultur

Auf Tuchfühlung mit Sigi Zimmerschied. (Foto: Rittenberg)

07.05.2010

Die Gedanken fliegen lassen

Josef Rödls neuer Dokumentarfilm über das aktuelle politische Kabarett

Sie haben den Opa im Garten vergessen. Im Regen. Vier Stunden saß er da. Er hat’s zwar überlebt – aber wenn er mal das Zeitliche gesegnet hat: Muss man ihn dann endlagern? Oder kann man ihn wiederaufbereiten? Nein, solche Gedankengänge kurz nach dem Super-GAU von Tschernobyl (1986) waren nicht unterhaltungstauglich und wurden prompt auf dem Weg in die Fernsehkanäle gestoppt – Verletzung der Menschenwürde, religiöser Gefühle und dergleichen aus dem Floskelreservoir der Zensur war da schnell parat, um Lisa Fitzens öffentlich geführtes Telefongespräch abzuwürgen. Zensur und Kabarett sind eine geradezu symbiotische Assoziation. Freilich schüttelt man den Kopf über das, wovor noch vor 20, 30 oder mehr Jahren das Publikum „geschützt“ werden sollte, wogegen Polizei aufgeboten wurde, wofür Kabarettisten bedroht und be-straft wurden, bis hin zum Tod. Aber auch heute noch ist Zensur eine der möglichen Reaktionen auf Kabarett: Man denke an Michael Lerchenbergs Auftritt auf dem Nockherberg und den entsprechenden „Zuschnitt“ bei der wiederholten Ausstrahlung im Bayerischen Fernsehen. Trotz aller comedy-inflationär vorgegaukelten Tabulosigkeit fordert gerade das politische Kabarett noch immer die Toleranzfähigkeit heraus – bzw. die „Grazie des Gewährens“, wie Altmeister Dieter Hildebrandt in Josef Rödls Dokumentarfilm "kabarett. kabarett" sagt. Freilich kokettiert die Szene auch: „Zensur ist ein Erfolg für den Zensierten“ (Ottfried Fischer). Und gerade der oft betroffene Dieter Hildebrandt feixt noch immer, wie schnell Sendungen aus seiner Reihe Notizen aus der Provinz (ZDF, 1972 bis 1979) trotz offiziellen Boykotts die Runde machten. Was ist – gutes oder schlechtes – Kabarett? Was kann und darf es? Wo sind seine Grenzen? Um diese Fragen geht es in Rödls Film "kabarett, kabarett", der beim Internationalen Dokumentarfilmfestival in München (5. bis 12. Mai) erstmals gezeigt wird. Es ist keine lexikalische oder historisch-chronologische Abhandlung, sondern eine Art Status Quo der aktuellen deutschsprachigen Kabarettszene (mit Schwerpunkt Süddeutschland) – mit ausgewählten Rückgriffen in die Geschichte (Nationalsozialismus, DDR). Fast zwei Dutzend Hauptdarsteller bietet Rödl auf: Hildebrandt, Priol, Zimmerschied, Asül, Barwasser, Polt, Hader, Schramm, Venske, Busse ... Dass die Berliner Szene so gut wie keine Rolle spielt, hat ökonomische Gründe: „Eigentlich hatte ich vor, aus dem Stoff einen Kinofilm zu machen.“ Dazu fehlte zwar das Geld, aber einiges von der ursprünglichen Konzeption ist geblieben, was Rödls 90-minütiger Dokumentation (die dann eine Auftragsarbeit für das Bayerische Fernsehen wurde) einen besonderen Reiz verleiht. „Ursprünglich wollte ich noch näher an die Akteure rangehen, diese starken Charaktere auch kameratechnisch viel mehr in ihrer Kunst, wie sie das Kabarett regelrecht leben, beobachten“, erklärt Rödl. Man sieht das noch in Filmsequenzen mit Sigi Zimmerschied: Wie der Kameramann den niederbayerischen Querdenker beispielswiese bei nicht ganz geöffneter Zimmertür aus dem Nebenzimmer beim Proben vor dem häuslichen Spiegel fast heimlich beobachtet. Oder wie Peter Sodann und Ernst Röhl (beide im DDR-Studententheater „Rat der Spötter“) Zellen des Staatsgefängnisses von Leipzig besuchen – verstummt in Erinnerung an ihre einstige Haftstrafe (1961) als Konterrevolutionäre. Auch die Umtriebigkeit der Reisenden in Sachen politischer Unterhaltung spinnt Rödl zu einem der dramaturgischen Fäden: Da das Gespräch bei einer Zigarette hinterm Zelt, dort beim Pausenkaffee in der Gastronomie oder am häuslichen Küchentisch, mal während der Autofahrt, heute auf der Bühne im Fraunhofer, morgen im Lustspielhaus, übermorgen im Scharfrichterhaus oder im Fernsehstudio ... Immer nah dran an den Gesichtern. Diese Spuren größerer Sinnlichkeit, die ein Kinofilm erfordert hätte, geben der Argumentationskette, die schließlich Rödls Dokumentarfilm dominiert, etwas Atemlos-Spannendes. Rödl unterbricht diese Verve nur selten, „wo es ging, habe ich mich rausgeschnitten“. Nur spärlich hört man ihn unaufdringlich, fast undeutlich leise aus dem Off, etwa wenn er Peter Sodann fragt, warum er als Bundespräsident kandidiert hat. Um die Atmosphäre nicht kaputtzumachen, verzichtet Rödl weitgehend auf erklärende Hintergründe. Man muss das Wissen um politische Zusammenhänge mitbringen. „Ich wollte die Gedanken meiner Hauptdarsteller fliegen lassen, die Argumentationskette sollte ohne offensichtliches Führen und Inszenieren deutlich werden.“ Das freilich rührt an ein Grundproblem, dem sich Dokumentarfilmer zunehmend stellen müssen: Ein solches Einlassen auf Personen, auf Situationen braucht Zeit, Geduld – kreative Freiheit des Filmemachers. Doch die widerspricht ökonomischen Gründen. Die Kalkulation erfordert ein immer exakteres Manuskript und einen detail-, beziehungsweise minutengenauen Drehplan. „Doch das ist Unsinn“, kritisiert Rödl, „der Inhalt muss einen Dokumentarfilm prägen, und der lässt sich nicht bis auf den letzten Drehtag vorausplanen.“ Da tun sich Kollegen, die aufs Reacting, also die Neu- oder Nachinszenierung im Dokumentarfilm setzen, leichter. Doch für Josef Rödl kommt dieses „Hochrechnen, wie etwas hätte sein können“, nicht in Frage: „Dann würde ich ja beweisen, dass ich der Wirklichkeit nicht mehr vertraue.“ Konsequenterweise hat Josef Rödl für kabarett.kabarett die meiste Verantwortung übernommen: Idee, Drehbuch und Regie stammen von ihm, wenn sich’s ergab, hat er die Kamera in die Hände genommen und am Ton gearbeitet – selbstredend ist er auch sein eigener Produzent. „Nicht vorhandenes Geld mit Zeitaufwand wettmachen“, nennt er das. (Karin Dütsch)

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