Kultur

Das Modell eines menschlichen Auges stammt aus dem Physikalischen Kabinett der Universität und gelangte 1904 als Leihgabe in das Deutsche Museum, wo es jüngst einer Konservierung unterzogen wurde. (Foto: Deutsches Museum/S.Grießbach)

09.06.2017

Eine Frage der wissenschaftlichen Würde

Die Lehr- und Forschungssammlungen der Ludwig-Maximilians-Universität München: Hans-Michael Körner holt die Stiefkinder ins Rampenlicht

Dröger Geschichtsunterricht – nein, in die traditionelle Kritik, an Schulen würden eh nur Daten vermittelt werden, stimmt Hans-Michael Körner nicht ein. Der emeritierte Professor für die Didaktik der Geschichte, der am 10. Juni seinen 70. Geburtstag feiert, konstatiert schlicht: „Heute lernt man über das frühere Leben mehr durch Ausstellungen, PC-Spiele, Historysoaps oder Mittelaltermärkte. Vor allem, weil das spielerisch anschaulich und eher nebenbei geschieht.“ Multimediale Angebote: Ersetzen sie die Lehrmodelle, die über Jahrhunderte das kognitive Lernen beflügelten – und die es im Fall komplexer historischer, immaterieller Zusammenhänge allerdings nie so gab wie für die Naturwissenschaften und die Kunstausbildung? Freilich bestimmt das Lernen am und mit dem Modell im Fall von Multimedia der gewisse Unterschied: Das Begreifen bleibt meist virtuell, der unmittelbare Weg von der Hand ins Hirn ist zumeist aufs Maus-Klicken beschränkt.

Auf die Finger klopfen

Allerdings würde der Didaktikexperte Körner auch entgegen seiner sonstigen Art mit gestrengem Blick drohen, notfalls auf die Finger zu klopfen, wollte jemand im wahrsten Sinne des Wortes Hand an den Ätna legen, der ganz real und dreidimensional im Archiv der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) aufragt und auch einmal Lehrmaterial war. So massiv das Modell auch aussieht: Es ist aus Gips und leicht zerbrechlich. Deshalb dürfen nur die Augen an den Graten entlangwandern und die Ablagerungen verschiedener Eruptionen abtasten. Damit man die Unterschiede von Ausbruch zu Ausbruch seit dem 16. Jahrhundert gleich erkennen kann, hat der Modellbauer vor gut 150 Jahren die verschiedenen Stadien farblich markiert. Wie viele Generationen von angehenden Geologen mögen einst an diesem oder einem der anderen elf, etwa 2 auf 1,5 Meter großen Modelle komplizierte Vulkanentwicklungen studiert haben? Heute gibt es dazu raffiniertes, satellitengestütztes Bildmaterial in Drei-D-Modulation für den PC – die alten Modelle sind längst ausrangiert worden.

Großer Auftritt beim LMU-Jubiläum 2022

„Wenigstens hat man sie nicht entsorgt“, freut sich Hans-Michael Körner über dieses Archivgut, für das gerade Stück für Stück der heikle Transport aus der geowissenschaftlichen Fakultät in der Münchner Innenstadt an den Stadtrand, nach Freimann ins Uniarchiv organisiert werden muss. Zumindest eines der Modelle wird in wenigen Jahren die Fahrt zurück machen: Es soll 2022 eines der Exponate bei der Ausstellung zum 550-Jahr-Jubiläum der LMU werden. Mit dem Ätna-Modell und anderen repräsentativen Einzelstücken will das Uniarchiv dann den vielfach in den Schatten gestellten historischen universitären Sammlungen einen großen Auftritt verschaffen – nach einer viel beachteten Tagung im vergangenen Jahr. Hans-Michael Körner geht es „um die Dignität früherer wissenschaftlicher Methoden, diesen wollen wir wieder mehr Anerkennung verschaffen“. Freilich gibt es viele universitäre Lehr- und Forschungssammlungen, die auch heute aktiv geführt werden – man denke an Präparate oder medizinisches Gerät. Im Fokus von Hans-Michael Körner stehen aber die historischen, abgeschlossenen Sammlungen – vor allem aus Fächern, in denen die historische Dimension keine große Rolle spielt: Das sind vornehmlich die Naturwissenschaften, wo neue Medien die alten Lehrmethoden radikal abgelöst haben. In anderen Fächern, wie der Kunstgeschichte, wird die Berechtigung von historischen Sammlungen hingegen nicht angezweifelt.

Neue Erkenntnisse beim Blick auf alte Präparate

Und dennoch: Wissenschaftsgeschichte – auch wenn sie im Unialltag eher ein Orchideenfach ist – ist derzeit populär, und damit geraten auch alte naturwissenschaftliche Sammlungen wieder zunehmend ins Blickfeld. „Sie werden gerne für Ausstellungen hervorgeholt, weil sich daran nach wie vor Kompliziertes augenfällig erklären lässt“, sagt Körner. Und nicht nur das: Auch Forscher ziehen bisweilen historische Präparate hervor: „Ein alter Gewebeschnitt kann heute unter ganz anderen Fragestellungen betrachtet werden, vor allem in der Genforschung bietet der Blick auf altes Material oft interessante Erkenntnisse. Und in der Biodiversitätsforschung sind auch heute noch viele Erkenntnisse nur durch das Betrachten von Präparaten möglich.“ Aber nur zwei Sammlungen der LMU genießen derzeit eine gewisse Popularität: Das sind die der Anatomie und das Kirchengut des Georgianums – beide haben eigene Schauräume. „Wir wollen dafür sorgen, dass auch die anderen Sammlungen gebührende Beachtung finden, selbst wenn die Münchner Hochschule für sie keine eigenen musealen Räume hat, wie sie sich andere Universitäten leisten.“

Statt Hauptamt nur ein Teilzeit-Ehrenamt

Man meint, ein geradezu sehnsüchtiges Durchschnaufen zu hören, wenn Hans-Michael Körner von großzügigen Bedingungen der Humboldt-Universität Berlin und der Universität Erlangen-Nürnberg erzählt – nicht nur, was die Erschließung und Präsentation der Sammlungen dort angeht, sondern auch, dass es dort quasi hauptamtliche Sammlungsbeauftragte gibt. In München ist das ein Teilzeit-Ehrenamt. In Berlin beschäftigt man sich schon seit den 1990er Jahren mit Unisammlungen. Dort ist auch die deutschlandweite „Koordinierungsstelle für wissenschaftliche Universitätssammlungen in Deutschland“ angesiedelt. Sie wurde vom Wissenschaftsrat der Bundesregierung vor fünf Jahren ins Leben gerufen (Etat 1,36 Millionen Euro für die nächsten fünf Jahre). Sie soll unterstützen, den an deutschen Hochschulen schlummernden Schatz besser in die aktuellen, auch internationalen Forschungsinfrastrukturen einzubinden. Seit 2015 gibt es zudem das Förderprogramm „Vernetzen – Erschließen – Forschen. Allianz für universitäre Sammlungen“. Unter anderem hat die Koordinierungsstelle eine zentrale Internetplattform eingerichtet, wo man sich durch die Auflistung samt Beschreibung von 983 Sammlungen an 82 Universitäten (Stand Ende 2016) klicken kann.
Mit 29 Sammlungen ist die LMU dort vertreten. Das sind allerdings bei Weitem nicht alle Sammlungen, die die Münchner Hochschule zu bieten hat. „Inzwischen sind wir auf fast 60 gestoßen“, schätzt Hans-Michael Körner. „Es werden aber sicher noch mehr, weil wir ja erst in jüngerer Zeit darangehen konnten, dieses Sammlungsgut aktiv aufzuspüren.“

Schatzsuche mitunter auf Baustellen

Der Didaktik-Professor ist zwar aus dem offiziellen Lehrbetrieb ausgeschieden – der Vorstand des Universitätsarchivs ist ihm aber geblieben. Die ebenfalls ehrenamtliche Aufgabe „Sammlungsbeauftragter“ ist ihm auch „irgendwie zugewachsen“ – obendrein die Funktion „Jubiläumsbeauftragter 550 Jahre LMU“. Körner sagt lächelnd: „Der einzige Unterschied zu früher, als ich noch nicht emeritiert war, ist, dass ich jetzt nicht mehr an den Gremiensitzungen teilnehme und die Prüfungsverfahren mitmachen muss. Ansonsten widme ich einen Großteil meiner Zeit nach wie vor der Universität." Freilich ist er es nicht selbst, sondern in erster Linie die Handvoll Mitarbeiter um den Leiter des Uniarchivs, Wolfgang J. Smolka, die sich auf Schatzsuche vor Ort – mitunter gar in zur Baustelle freigegebenen Räumen – macht. Der Didaktiker Körner ist dabei so etwas wie die „graue Eminenz“, die diplomatisch in der Riege der Fakultätsleiter agiert. „Es geht nicht darum, dass wir die zum Teil sehr alten Sammlungen der Institute einsammeln, ja requirieren. In erster Linie ist uns daran gelegen, dieses Lehrmaterial in seinem wissenschaftlichen Kontext gesichert zu sehen. Wir versuchen zu überzeugen, dass die Dinge in den Fakultäten selbst besser optisch zur Geltung gebracht werden können.“

Uniarchiv bietet Asyl für Verwaistes

Konkret bedeutet das: Was oft in Kisten und Schränken in Kellern und Abstellkammern unbeachtet lagert, kann schon allein durch eine Vitrinenschau wieder zu Ehren kommen. „Ins Uniarchiv nehmen wir nur, was sozusagen frei ist, was droht, sonst verloren zu gehen. Aber an sich ist das Archiv für diese Sammlungen nur als historisches Gedächtnis zu verstehen, nicht als physischer Ort, weil wir eben nicht den historischen Wissenschaftskontext bieten können.“ 15 solcher „verwaisten“ Lehr- und Forschungssammlungen verwahrt das Archiv derzeit: Aus der Geologie und Geografie, der Medizin, Pharmazie und Botanik ebenso wie aus der Landesgeschichte. Da sind die riesigen Vulkanmodelle, handgezeichnete und gedruckte Karten, Atlanten und Globen, Tierpräparate, pharmakologische Materialsammlungen, Spiele aus der pädagogischen Forschung – und vor allem aus allen Disziplinen historische Stoffsammlungen, handschriftliche Aufzeichnungen, Bildmaterial, Filme und Zettelarchive. Erschlossen sind allerdings die wenigsten dieser Sammlungen; diese Aufgabe wäre von den jeweiligen Instituten zu erbringen – ein Desiderat. Woran liegt es, dass ausgerechnet die Exzellenzuniversität bei den Sammlungen im bayern- und deutschlandweiten Ranking weit hinten liegt, dass in vielen Disziplinen überhaupt für diesen ungehobenen Schatz geworben werden muss?

Das Beste wanderte in die Staatssammlungen

Wissenschaftliche Ignoranz sei das keinesfalls, winkt Hans-Michael Körner ab. Seine Erklärung dafür: „München ist ein spezieller Fall, weil es hier gut ausgebaute und ausgestattete gleichartige staatliche Sammlungen gibt. Im 19. Jahrhundert hat man deshalb praktischerweise die Unisammlungen oder auch nur Einzelstücke von ihnen dort eingegliedert.“ Die staatlichen Sammlungen pickten sich freilich nur das Beste heraus – etwa Münzen und Medaillen, Gemälde, eine große Steinsammlung, ein Herbar und präparierte Tiere. Physikalisches Gerät ging leihweise ans Deutsche Museum. Was der Universität verblieb, galt als wenig wertvoll und letztlich überflüssig. Bauliche Sondervorkehrungen oder gar eine personelle Betreuung erübrigte sich damit. Sollte man das alte Sammlungsgut zurückbeordern und ein eigenes Universitätsmuseum dafür aufbauen? Das wäre absolut unrealistisch. „Man muss ehrlich sagen, dass vieles vielleicht nur deshalb die Zeit überdauert hat, weil es in den Staatssammlungen einen sicheren Rahmen hatte. Auch was die professionelle museale Betreuung und den konservatorischen Umgang mit den Stücken angeht, bliebe die Uni weit hinterher.“

Uni-Leihgaben in Museen eindeutig benennen

Und doch wurmt es das engagierte Team, dass das abgewanderte Gut so gänzlich seinen universitären Bezug verloren hat: „Aber wir arbeiten daran, dass die Besitzverhältnisse künftig eindeutig ausgewiesen werden, dass man Museumsexponate sofort als Leihgaben der LMU erkennen kann“, sagt Archivar und Sammlungsbetreuer Claudius Stein. Fürs Sichtbarmachen sorgt das Sammlungsteam auch mit einem gewichtigen 400-Seiten-Buch, das gerade erarbeitet und voraussichtlich 2018 erscheinen wird: „Spätestens damit und mit unserer Schau zum 550-Jahr-Jubiläum der LMU wird man nicht mehr sagen können, von den Universitätssammlungen noch nie gehört zu haben“, ist sich Hans-Michael Körner sicher. (Karin Dütsch) Informationen: www.universitaetsarchiv.uni-muenchen.de und www.wissenschaftliche-sammlungen.de Abbildungen:
Von wegen Ruhestand! Vermutlich gerade weil er in Sachen Geschichtsvermittlung ein profunder Didaktiker ist, wurde Hans-Michael Körner gebeten, sich als Koordinator um die Lehr- und Forschungssammlungen der Ludwig-Maximilians-Universität zu kümmern. Am 10. Juni feiert Körner seinen 70. Geburtstag. Das Porträt zeigt ihn vor der wissenschaftlichen Sammlung mit den Gelehrtenporträts aus dem Orden der Augstiner Chorherren. (Foto: Claudius Stein) 150 Jahre alt ist das Gipsmodell, das den Ätna und seine Umgebung zeigt. Der Modellbauer hat alle Ablagerungen der verschiedenen Vulkanausbrüche farblich markiert. Die Grate dürfen heute allerdings nur Augen abtasten – das Modell droht, bei übermäßiger Berührung zu zerbröckeln. (Foto: Claudius Stein) Das Gemälde mit dem ungläubigen Thomas gehört zu den wenigen Stücken, die sich bereits im 18. Jahrhundert in der Universität nachweisen lassen und die sich bis heute in deren Räumlichkeiten befinden. (Foto: Claudius Stein)

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