Kultur

Perverse Rollenspielchen sind die Spezialität in Irmas Nobelpuff. Hier vergnügt sich der als Richter verkleidete Kunde (Philip Dechamps) mit einem Mädchen (Mathilde Bundschuh), im Vordergrund Tim Werths als Scherge Arthur. (Foto: Konrad Fersterer)

09.03.2018

Entzauberte Metaphern

Trotz inszenatorischer Gags hätte „Der Balkon“ von Jean Genet im Münchner Marstall Straffung nötig gehabt

Wahrscheinlich wollte Aleksandar Denic einfach verhindern, dass die Stimmung überkocht. Weshalb der Bühnenbildner eine Riesenwand aus Kühlschränken und Getränkeautomaten in den Marstall des Münchner Residenztheaters stellte (die sich am Ende gar noch zum Hakenkreuz formierten). Denn bei Madame Irma geht’s heiß her: In ihrem Nobelbordell treten die Damen in Strapsen, Netzstrümpfen, Hotpants auf. Und weil Mathilde Bundschuh, Cynthia Micas sowie die großartige Juliane Köhler als Puffmutter unseres Vertrauens ihre Körper in solchen Outfits ausführlich der Bewunderung preisgeben, scheint der symbolische Temperaturausgleich dringend geboten.
„Spezi – da ist Saft drin“, steht als Werbespruch auf einem der Kühlgeräte. Und phasenweise gilt das auch für diese Inszenierung von Jean Genets Puff-Groteske Der Balkon – die aber mit dreieinhalb Stunden überflüssig lang geriet und darum auch allzu viele Durststrecken aufweist.
Dabei geht es ganz spritzig los – oder zumindest hübsch pervers. Denn Madame Irmas Etablissement ist spezialisiert auf Kunden, die gern in Rollenspielen Machthaber mimen: Der eine gibt im Kirchenornat den Bischof, der einer leicht bekleideten Sünderin die Beichte abnimmt. Der andere fällt in Richterrobe das Urteil über eine Angeklagte, und der Dritte verkleidet sich als ordenbehangener General, der einem Mädel („du Pferd!“) die Sporen gibt.
Im Hintergrund sind manchmal Explosionen und MG-Feuer zu hören, denn in der Stadt tobt ein Volksaufstand: Die Königin, Richter, Bischöfe wurden von den Revoluzzern getötet. Darum wenden die Mächtigen Trick 17 an: Sie lassen Madame Irma als Königin und die drei Bordellkunden in den Kostümen als Bischof, Richter, General auf dem Balkon vor das Volk treten, das folglich glaubt, die staatliche Ordnung sei noch in Kraft, woraufhin die Revolution zusammenbricht.
Merke: Der Staat ist auch nur ein Puff, das heißt, ein großes Theater, wo es um äußeren Schein und gespielte Rollen geht.

Überkonstruiertes Thema

Dass in Ivica Buljans Inszenierung der Rhythmus von Anfang an arg holpert, mag der Versuch sein, das Castorff’sche Zerfransungs-Theater zu imitieren. Trotzdem tut es dem Abend genauso wenig gut wie die Textfrömmigkeit des kroatischen Regisseurs, der dem Stück durch den Verzicht auf Kürzungen einen Bärendienst erweist.
Denn so wird erkennbar, wie viel Metaphernschwulst, Geschwätzigkeit und kandiertes Existenzialistenpathos in Genets Text steckt. Die legendäre Komödie über Spiele der Macht und die Macht des Spiels steht nun plötzlich entzaubert da und gibt zudem ihre wacklige Überkonstruiertheit zu erkennen.
Die eigentliche Sensation des Abends sind dafür die Schauspieler, die mit vollem physischen und psychischen Einsatz bis an ihre Schmerzgrenze gehen (und an die des Publikums): Tim Werths macht sich, nur mit Unterhose bekleidet, bedrohlich realistisch zum Affen, der grunzend über die Sitzlehnen ins Publikum turnt. Und Marko Mandi(´c) als Revolutionsführer zwängt sich gleich ganz nackert durch die Zuschauerreihen, bis er das Publikum ins Freie vor das Theater bittet, wo man sich um ein brennendes Ölfass versammelt. Schon flitzt Mandi(´c) bei minus vier Grad Celsius splitternackt über den verschneiten Platz, klettert die Wand des Marstalls hinauf und singt dabei auf Slowenisch die „Internationale“, während droben, auf dem „Balkon“, die Königin mit den Stützen der Gesellschaft posiert.
Für dieses frostige Spektakel gab’s am Ende warmen Applaus, den sich zumindest die Akteure redlich verdient hatten. (Alexander Altmann)

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