Kultur

Dr. Schön (Bo Skovhus) heiratet Lulu, wird paranoid, gewalttätig – und schließlich erschossen. (Foto: Hösl)

29.05.2015

Hass und Angst

Dmitri Tcherniakov interpretiert Alban Bergs "Lulu" an der Bayerischen Staatsoper als Borderlinerin

Manchmal muss man bis zum Ende warten, bis sich eine Regie ganz erschließt. Bei der Neuproduktion der Oper Lulu von Alban Berg nach Frank Wedekind, die 1937 als Fragment uraufgeführt wurde und jetzt am Münchner Nationaltheater Premiere hatte, lohnt sich das Warten. In der Inszenierung von Dmitri Tcherniakov vergnügt sich nämlich am Ende die tragische Titelheldin mit einem Freier. Bald rammt sie sich ein Messer in den Bauch – Lulu wird nicht getötet, sondern bringt sich selbst um. Damit wird vollends klar: Für den Russen Tcherniakov ist Lulu weder Vamp noch Femme fatale, die reihenweise Männer verführt und ins Verderben treibt. Nein, seine Lulu leidet vielmehr am Borderline-Syndrom.
Wer von dieser Persönlichkeitsstörung betroffen ist, hat meist große Angst davor, verlassen zu werden. Einerseits klammert er – ohne aber wirkliche Beziehungen aufbauen zu können. Andererseits ist er wahllos mit Menschen intim, um sich selbst zu entwürdigen. Tiefe Aggressionen gegen sich und andere gehören in der Regel ebenso zu den Symptomen wie erschreckende Schwankungen der Stimmung. Wenn keine Heilung erfolgt, ist der Selbstmord oftmals die finale Konsequenz – so wie bei Tcherniakovs Lulu. Dieser Ansatz seiner Regie entpuppt sich als stark, allerdings erst hinterher.

Großartig besetzt

Bis zum interessanten Ende dieser Neuinszenierung muss man sich durch ein statisches Bühnengeschehen mühen, in dem über weite Strecken im Grunde nichts passiert. Bei Tcherniakov irren Lulu und alle Personen in einem gläsernen Labyrinth umher: Es steht für Lulus Innenleben. Vielfach spiegelt und bricht sich ihre Persönlichkeit durch das Glas. Aus diesem seelischen Labyrinth gibt es kein Entrinnen, nicht nur für die kranke Lulu.
Den feschen Maler (Rainer Trost) treibt sie in den Selbstmord. Mit ihm hat Lulu zuvor ihren Gatten betrogen (Christian Rieger), der im Schock einen Herzinfarkt erleidet. Besonders schlimm ergeht es Dr. Schön, dem es nicht gelingt, Lulu zu entfliehen – weil er ihr bis zur Selbstaufgabe hörig ist (großartig: Bo Skovhus). Als Lulus nächster Ehemann mutiert Dr. Schön zu einem paranoiden, gewaltbereiten Menschen. Überall wittert er Nebenbuhler – zurecht. Doch was die Borderlinerin Lulu liebt, muss sie umgehend zerstören. Sie erschießt Dr. Schön. Ich hasse dich – verlass mich nicht, lautet der Titel eines Psychologie-Klassikers zum Borderline-Syndrom – auf Tcherniakovs Interpretation passt das ganz vortrefflich. Alle gehen zugrunde, die in Lulus Nähe geraten, auch die Gräfin Geschwitz (eindrucksvoll: Daniela Sindram).
Dmitri Tcherniakovs Inszenierung profitiert von einem Ensemble, das bis in die kleinste Rolle durchwegs großartig besetzt ist. Das gilt vor allem für die Lulu von Marlis Petersen, die einfach überragend singt und spielt. Selten werden in Aufführungen die tollkühnen Koloraturen derart klar und präzise gestaltet, und das bei erstaunlicher Verständlichkeit des Textes.

Hörkrimi erster Güte

Noch dazu versteht es Staatsopern-GMD Kirill Petrenko meisterhaft, die klanglich und stilistisch vielschichtige Partitur glasklar zu sezieren. Es ist Petrenkos erste Lulu. In München dirigiert er die Vervollständigung des unvollendeten Dreiakters. Diese Fassung hat Friedrich Cerha in den 1970er Jahren vorgelegt; Pierre Boulez verantwortete 1979 in Paris die Weltpremiere. Zwar bleibt Kirill Petrenkos Leitung im ersten Akt etwas diffus, aber im zweiten und dritten Aufzug entfacht er eine vielfarbige Expressivität: unerhört fragil und luzid, dabei stets zupackend. Es sind Hörkrimis erster Güte, die Petrenko mit dem Bayerischen Staatsorchester entwirft. Das macht manche statische Länge in der Szene wett. (Marco Frei) Abbildung:
Marlis Petersen brilliert sängerisch ebenso wie schauspielerisch als Lulu. (Foto: Hösl)

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