Kultur

Das promiskuitive Leben der Bohème (von links): Philosoph (Karen Dahmen), Schauspieler (Martin Bruchmann), Dichter (Thomas L. Dietz), Maler (Philipp Weigand), Sängerin (Elke Wollmann) und Mimi, die Unschuld vom Land (Henriette Schmidt). (Foto: Marion Bührle)

24.04.2015

Hungerleider und Lebenskünstler

Stefan Ottenis "Das Leben der Bohème" am Schauspielhaus Nürnberg beinhaltet viel Leerlauf

„Wir sind in einer musikalischen Produktion“, gibt der Schauspieler Thomas L. Dietz in der Rolle des Dichters Rudolphe dem Publikum im Schauspielhaus Nürnberg vorsichtshalber mit auf den Weg, um Verwechslungen und Missverständnissen vorzubeugen. Und die könnten leicht aufkommen. Denn gespielt, gesungen und musiziert wird Das Leben der Bohème – allerdings nicht Giacomo Puccinis Oper La Bohème, sondern die Dramatisierung des (1851 erschienenen) Romans Szenen aus dem Leben der Bohème des französischen Autors Henri Murger, nach dessen Vorlage sich auch Puccini das Libretto für seine Oper (1896 uraufgeführt) schreiben ließ.
Die Nürnberger Schauspielfassung ließ sich Stefan Otteni einfallen, der auch Regie in dieser Uraufführung führte, für die Bettina Ostermeier, (die Bühnenmusikerin des Nürnberger Staatsschauspiels), die mal mehr, mal weniger passendere Musik arrangierte und mit ihrem Quintett auf allerlei Instrumenten (vom Klavier bis zum Schifferklavier) intonierte.
Den balladesken Bilderbogen der sich über drei Stunden hinziehenden, rasch wechselnden Szenenfolge siedelt Bühnenbilder Peter Scior in einer doppelstöckigen Guckkastenbühne mit acht simultanen Spielflächen an, die obendrein noch auf einer Drehbühne stehen. Das suggeriert Dramatik, Dynamik und Tempo – symbolisiert aber auch überdeutlich den Leerlauf des Inszenierung.

Schlingensief-Imitat

Dabei mimen und chargieren, kalauern und singen die acht Schauspieler, was das Zeug hält und die Lungen hergeben, um das Leben, Leiden und Sterben der Bohème im Paris des 19. Jahrhunderts vorzustellen. Stefan Ottenis Inszenierung stellt die vier Hungerleider und Lebenskünstler aber vorwiegend aus und an der Bühnenrampe auf, um ihren nur gelegentlichen Wortwitz, meist aber Spruchweisheiten und Sentenzen los zu werden und aufzusagen: so wie Colline, der Philosoph (Karen Dahmen), der von Wittgenstein bis Adorno alles zitiert, was partout nicht zur Inszenierung passt; oder wie Alexandre, der Schauspieler (Martin Bruchmann), und Marcel, der Maler (Philipp Weigand), der mit Body- und Action-Painting frei nach Jonathan Meese und Yves Klein alle Vorurteile über moderne Kunst – zum Jubel des Publikums – bestätigt, aber damit, beabsichtigt oder nicht, doch nur Christoph Schlingensiefs einschlägige Kunst-Parodien auf der Bühne imitiert.
Mit der Hauptfigur Rudolphe, dem Dichter (Thomas L. Dietz), rafft sich die Inszenierung sogar zu einer Art selbstkritischer Eigenparodie auf: Am Rand der Bühne sitzend, rauft er sich ob der rhetorischen Parterre-Akrobatik der Texte allenthalben die Haare, wenn er nicht kopfschüttelnd beiseite guckt und „Oh Gott, wie peinlich!“ murmelt. Bildungsbeflissen legt ihm die Regie auch unverständliche Anspielungen auf Oskar Kokoschkas früh-expressionistischen Einakter Mörder, Hoffnung der Frauen in den Mund, vergisst aber einen (wie auch immer verschlüsselten) Seitenhieb auf die filmische Bohème-Adaption (1992) des finnischen Filmers Aki Kaurismäki.
Als Mimi spielt Henriette Schmidt die verhärmte und zusehends verhungernde „Wasserleiche vom Dienst“, währende Frank Damerius den Wirt und den Vermieter, den Apotheker, den Arzt und den Kunsthändler unnachahmlich komisch hinschnoddert.
Bettina Ostermeiers Bühnenmusik lehnt sich glücklicherweise so gut wie gar nicht an Puccini an, wenn man von ein paar wenigen, von der Konserve eingespielten Opern-Passagen und der als Running Gag immer wieder eingesungenen „Wie eiskalt ist dies Händchen“-Arie der Mimi absieht. Musikalischer Lichtblick sind die Chansons der Musetta, die Elke Wollmann als versierte Diseuse ironisch „übersingt“. Ansonsten mäandert die musikalische Untermalung zwischen Musical, Revue und Operette, Musette-Walzer-Seligkeit, melodramatischem Sing-Spiel und Slam-Poetry-Sing-Sang, holpert sich durch eigene Songs oder gibt sich mit David Bowie, Blixa Bargeld und Peter Licht „charmant und sexy, witzig und heiter“, mit Esprit.
Mit einer Klingelbeutel-Kollekte durch die Zuschauerreihen zur Finanzierung des Künstlerfests rafft sich die langatmige Inszenierung zum Schluss hin zu einigen bunten und musikalisch schmissig-farbigen Szenen auf, die freilich die über weite Strecken dominierende epische Aneinanderreihung von (Nach-) Erzählungen und Anekdoten auch nicht mehr retten können. Dennoch heftiger Beifall, vor allem von den oberen Rängen. (Fridrich J. Bröder)

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