Kultur

Täteranalyse am authentischen Ort: Direkt neben dem ehemaligen NSDAP-Zentrum am Münchner Königsplatz wurde das NS-Dokumentationszentrum errichtet. Zum Konzept gehört, dass der Besucher aus dem weißen Kubus des Berliner Architekturbüros Georg Scheel Wetzel heraus immer Sichtbeziehung zu den ehemaligen Nazi-Bauten in der Nachbarschaft hat. (Foto: NS-Dokumentationszentrum/Jens Weber)

10.04.2015

"Ich inszeniere, aber kein Spektakel"

Für Winfried Nerdinger, den Spiritus Rector des NS-Dokumentationszentrums, ist die intellektuelle Motivforschung wichtiger als museales Entertainment

Jahrzehnte dauerte es, bis München bereit war, mit einer eigenen Institution an seine Vergangenheit als „Hauptstadt der Bewegung“ zu erinnern. Dann das Ringen um den Standort, und das Wie. Am 30. April wird nun das NS-Dokumentationszentrum am Königsplatz mit einem Festakt eröffnet. Gründungsdirektor Winfried Nerdinger erklärt das Konzept und spannende Beziehungen zur Nachbarschaft. BSZ Herr Nerdinger, nur noch wenige Tage bis zur Eröffnung des NS-Dokumentationszentrums – überall wird im Haus auf Hochtouren gearbeitet. Gehen Sie zur Zeit überhaupt noch nach Hause?
Winfried Nerdinger Natürlich! Ich muss noch viele Texte für die Ausstellung verfassen, und das geht nachts zuhause am besten. BSZ Sie waren es, der vor ungefähr 25 Jahren den Stein ins Rollen brachte, dass München ein solches Zentrum errichtet. All die Diskussionen um den Standort und die inhaltliche Ausrichtung begleiteten Sie als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats. Und als Irmtrud Wojak mit ihrem Konzept überwiegend auf Ablehnung stieß und den Posten als Gründungsdirektorin aufgab, sprangen Sie 2012 als Retter in der Not auch da ein. Ist dieses Projekt so etwas wie Ihre Lebensaufgabe?
Nerdinger Das sehe ich nicht ganz so. Denn es ist ja nicht meine Verpflichtung, einen solchen Erinnerungsort zu schaffen, sondern die der Stadt. Zudem ist es nicht die erste Ausstellungsinstitution, die ich zur Eröffnung gebracht habe. Da sind bereits die Architekturmuseen in München und Augsburg. Als Architekturhistoriker ist mein wissenschaftliches Arbeitsfeld sehr breit. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist allerdings ein sehr wichtiges Anliegen für mich. Aber zum Vergleich: Nur drei der etwa 150 von mir konzipierten Ausstellungen haben damit zu tun. BSZ Waren Sie also so etwas wie das bohrende Gewissen, dass sich die „Weltstadt mit Herz“ endlich auch offensiv ihrer unrühmlichen Geschichte stellt?
Nerdinger In gewisser Weise, ja. Sehen Sie, das Grün dort draußen (zeigt aus seinem Bürofenster hinaus zum Königsplatz) macht sich schön. Auch im übertragenen Sinn ist es jahrzehntelang einfacher gewesen, Gras über die braunen Flecken wachsen zu lassen. Nahezu nirgends in der Stadt finden Sie Hinweise auf Täterorte. Genauer gesagt, hier am Fundament eines der beiden Nazi-Ehrentempel gibt es tatsächlich ein kleines Hinweisschild. Aber es verweist lediglich auf den Königsplatz und die Parteizentrale der NSDAP. BSZ Sie haben von mancher wohlfeilen Fassade in der Landeshauptstadt schon einmal den Schleier gelüftet: Ihre Ausstellung „Ort und Erinnerung. Nationalsozialismus in München“ hat nicht jedem in der Stadt gefallen.
Nerdinger Ja, aber in drei Monaten sind etwa 150 000 Besucher in die Ausstellung gekommen. Der Andrang war enorm. Die Menschen hier wollen sich mit der Geschichte ihrer Stadt auseinandersetzen. Und das geht eben auf Dauer nicht anders als mit einer solchen zentralen Institution wie dem NS-Dokumentationszentrum. BSZ Droht die Gefahr, dass nach dem Trubel um das Neue bald behäbige Gemütlichkeit eintritt gemäß des Mottos „Pflicht erfüllt, jetzt langts auch wieder“?
Nerdinger Dafür werden wir sorgen, dass das nicht so sein wird! Das Haus ruht auf zwei Säulen: Zum einen geht es hier um die Dokumentation, um die Präsentation von Materialien, die Zusammenhänge erklären, wie es zum Nationalsozialismus gekommen ist. Zum anderen sind wir ein Lernort. Das steht auch explizit im Untertitel der Institution. Und das Lernen bezieht sich nicht auf eine abgeschlossene historische Epoche, wie wenn es zum Beispiel um die Malerei im 19. Jahrhundert ginge, die sich klar als vergangen abgrenzen lässt. Unser Leitmotiv lautet vielmehr „Das geht mich auch heute etwas an.“ Wir enden nicht 1945, sondern thematisieren das Fortleben von nationalsozialistischem Gedankengut bis heute. BSZ Lernort – schreckt das nicht ab? Das klingt danach, dass der Besucher was tun muss. Und das, wo vielerorts gerade auch bei historischen Themen die museale Bespaßung für hohe Besucherquoten sorgen soll.
Nerdinger Die Tendenz zur Eventisierung ist unübersehbar. Ich habe aber keine meiner Ausstellungen derart angelegt. Ich inszeniere auch, das gehört zum Ausstellen, aber keine Spektakel. Andererseits ist das alles hier nicht wie ein Lesebuch gestaltet, durch das man sich mühsam durcharbeiten muss. Wer ins Dokumentationszentrum kommt, wird zunächst optisch angesprochen. BSZ Aber Exponate, wie man sie im klassischen Ausstellungsgeschäft erwartet, präsentieren Sie nicht?
Nerdinger Anders als in einem Museum, zeigen wir keine Originale, schon gar keine Erinnerungsstücke an einstige Nazigrößen. Solche Exponate emotionalisieren nur. Wir wollen den Verstand ansprechen, freilich geht auch das nicht ohne emotionale Wirkung. Bei uns besorgen das Fotos und Filme. So leitet jede der 33 Stationen in der Dauerausstellung ein Bilderpaar ein. Selbst ohne zu lesen, wird der Betrachter sofort in eine Situation hineingezogen, er erkennt, um was es geht. BSZ Welches Bilderpaar steht am Anfang des Rundgangs?
Nerdinger Da empfängt den Besucher eine große Aufnahme von einem Schlachtfeld in Ypern. Man sieht die kriegszerstörte Landschaft, viele Tote und Verwundete. Daneben hängt ein kleines Bild von der Friedensdemonstration am 7. November 1918 auf der Münchner Theresienwiese. Kurt Eisner spricht. Am Tag danach ist es mit der Monarchie in Bayern vorbei. Im Weltkrieg werden alle Ordnungen und Werte zerstört. Es folgen Revolution, Räterepublik und eine blutige Gegenrevolution in München. Dies war dann der Boden, der den Nationalsozialismus gedeihen ließ. Wer will, kann noch eine knappe Seite Text neben den Bildern lesen. Oder sich Schicht um Schicht in die Themen und ihre vielen Verzweigungen, in Details ebenso wie in die Zusammenschau weiter einarbeiten. BSZ Das geht im Dokumentationszentrum tatsächlich auch räumlich in die Tiefe.
Nerdinger Ja, der Ausstellungsrundgang beginnt im vierten Stock und geht abwärts bis zu den beiden Untergeschossen. Dort ist der eigentliche Lernort des Zentrums. In der Bibliothek und an Medienpulten kann man sich noch einmal die ganze Dauerausstellung in Ruhe abrufen, Erklärungen für Begriffe finden und sich in Sonderaspekte vertiefen. Die entsprechende Datenbank wird ständig erweitert. Außerdem haben wir dort ein Auditorium und andere Veranstaltungsräume. Vier festangestellte Pädagogen kümmern sich um die Betreuung dieses Lernortes. BSZ Welches Grundwissen muss man denn mitbringen, um das alles zu verstehen?
Nerdinger Auch wenn Schulklassen sicher einen großen Teil der Besucher ausmachen werden, so haben wir doch generell den „interessierten Bürger“ vor Augen und differenzieren nicht nach Alter oder Vorbildung. Wer hierher kommt, ist ohnehin motiviert, etwas wissen zu wollen. Das Anspruchsniveau ist nicht so ganz niedrig. Aber es geht um ein schwieriges, komplexes Thema, das wir nicht simplifizieren wollen. BSZ Kann man eigentlich nur mit Führung durch das Haus gehen?
Nerdinger Nein, es gibt keine „Zwangsführungen“. Gleichwohl gibt es Medienguides, auch für Jugendliche. Die wurden in Seminaren von Lehrern und Jugendlichen mit entwickelt, Sprecher sind auch Jugendliche. In einer Version, die sich an die ungefähr Zwölf- bis Vierzehnjährigen richtet, wird eine konkrete Lebensgeschichte eines Kindes in der NS-Zeit erzählt, die dann zu den Stationen der Ausstellung führt. BSZ Bislang gingen Schulfahrten nach Nürnberg zum Dokumentationszentrum Reichsparteitage und/oder zum ehemaligen Konzentrationslager Dachau. Nun kommt das NS-Dokumentationszentrum in München dazu. Entsteht da nicht eine Konkurrenz? Werden Schulklassen jetzt weniger Dachau besuchen, weil das Neue mehr lockt?
Nerdinger „Halts Maul, sonst kommst nach Dachau!“, hieß es einstmals in München. Damit wurde die „Volksgemeinschaft“ diszipliniert. Dachau stand in nationalsozialistischer Zeit wie eine Drohung über der Landeshauptstadt. Und deshalb nehmen wir in der Ausstellung ständig Bezug auf Dachau. Dort ist eine hohe Emotionalität wichtig, denn es ist ja ein Ort, an dem man der Opfer gedenkt, es ist eine Art Friedhof im erweiterten Sinn. Hier aber ist der Ort der Täter. Hier soll man die Motive der Täter kennenlernen. Und das kann nur intellektuell geschehen. Nein, Konkurrenten sind wir keinesfalls. Im Gegenteil, wir ergänzen uns. Es wäre schön, wenn das Kultusministerium entsprechend bei den Schulen für den Besuch beider Orte wirbt. BSZ Der Ort der Täter. Ihnen war es besonders wichtig, dass das Dokumentationszentrum am Königsplatz errichtet wird.
Nerdinger Dort drüben in der NSDAP-Zentrale (zeigt zum Nachbargebäude) wurden von den Nazis acht Millionen Mitgliederkarten verwaltet. Da hinten war der Führerbau. Dort unten sind die Sockelreste der Ehrentempel. Genau hier sind wir richtig, wenn wir Motive erforschen wollen. BSZ Künftig ist in fast unmittelbarer Nachbarschaft auch das Israelitische Generalkonsulat beheimatet.
Nerdinger Das ist eine zufällige Koinzidenz. Davon habe ich auch erst im vergangenen Jahr erfahren. Der Generalkonsul hat uns schon besucht. Es könnte sich eine ganz spannende Beziehung ergeben. BSZ Wie auch zum Amerikahaus, in dem der Festakt zur Eröffnung des Dokumentationszentrums am 30. April stattfinden wird.
Nerdinger Auch das ist ein Punkt, warum das Dokumentationszentrum genau hier am richtigen Ort ist. Das Re-Educations-Zentrum der Amerikaner war ursprünglich im so genannten Führerbau untergebracht. Zwischen 1948 und 1957 sind dort gut zehn Millionen Menschen ein- und ausgegangen. Dort hat München zur Demokratie zurückgefunden. Jetzt unser Haus hier: Ist das nicht eine Art Fortsetzung dieser Erziehung zur Demokratie? BSZ Vermutlich lauern schon die Kritiker, die Ihr Ausstellungskonzept infrage stellen werden.
Nerdinger Man kann es nicht allen recht machen. Das Wichtigste ist: Es dürfen keine Fehler in der Ausstellung sein. Ich bin froh, Hans Günter Hockerts im Team zu haben. Er ist einer der bedeutendsten deutschen Zeithistoriker. Jeder Text hier im Haus wurde von ihm überprüft. Im Prinzip ist er unser Garant, dass wir den Stand der Forschung widerspiegeln. BSZ Und der ist aber bei manchen Fragen keinesfalls eindeutig, zum Beispiel beim Begriff „Volksgemeinschaft“.
Nerdinger Wir können hier im Dokumentationszentrum in der Ausstellung keine wissenschaftlichen Diskussionen austragen. Gleichwohl führen wir den Begriff der „Volksgemeinschaft“ ein, erklären ihn und setzen ihn in Anführungszeichen, um zu verdeutlichen, dass er aus der Nazi-Ideologie stammt. BSZ Muss man damit rechnen, dass sich Besucher über die Ausstellung ähnlich aufregen wie über die legendäre „Wehrmachtsausstellung“?
Nerdinger Bei dieser Ausstellung sind Fehler gemacht worden. Bilder waren falsch zugeordnet, das war objektiv nachweisbar. Und das reichte vordergründig, die ganze Ausstellung zu diskreditieren und für andere Zwecke zu instrumentalisieren. BSZ Aber es wird noch Zeitzeugen geben, die mit dem Dargestellten in NS-Dokumentationszentrum nicht einverstanden sind, selbst wenn es wissenschaftlich korrekt ist.
Nerdinger Natürlich gibt es immer einen Prozentsatz, der die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte ablehnt. Und es gibt einen kleinen Bodensatz, der schon jetzt anonym Briefe an das „Nazimuseum“ schickt. Das bestätigt nur, wie wichtig das Dokumentationszentrum ist und dass kontinuierliche Aufklärungsarbeit notwendig ist. (Interview: Karin Dütsch) Abbildungen (Fotos: NS-Dokumentationszentrum/Conolly/Weber):
Winfried Nerdinger (70) ist ein unnachgiebiger und unbequemer Mahner: „Die Weltstadt mit Herz muss sich ihrer dunklen Vergangenheit endlich offensiv stellen.“ Einen der beiden Sockel der ehemaligen „Ehrentempel“ ließ Winfried Nerdinger inzwischen vom Bewuchs freilegen. 

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