Kultur

Heißes vor einem Gemälde von van Gogh: Eine der Entdeckungen von Timm Ulrichs in Pornoheften. (Foto: Museum für konkrete Kunst)

18.01.2013

Kunst und Porno

Timm Ulrichs findet Kunst, wo gar keine ist

Vögeln vor van Gogh: Das Ingolstädter Museum für konkrete Kunst verbietet den Zutritt zwar für Jugendliche unter 16, aber Timm Ulrichs’ Bildserie von Pornografie plus populärer Kunst ist denn doch der witzigste Teil seiner aktuellen Ausstellung dort. Wer hätte denn zuvor schon mal Pornohefte daraufhin durchforstet, was als Dekor fürs professionelle Rammeln an der Wand hängt?
Timm Ulrichs (Jahrgang 1940) hat’s getan und Lionel Feininger hinter der Tisch-Nummer, Toulouse-Lautrec hinterm fidelen Dreier entdeckt, und damit viel spätbürgerlichen Mief hinter vermeintlicher Libertinage. Bilder-Finder – Bild-Erfinder heißt die unterhaltsame Schau – und Ulrichs findet Bilder, wo eigentlich jeder sie entdecken könnte. Vielleicht ist die Verzweiflung seines Telegramms an den Frankfurter Kunstverein (1971) daran schuld: „Mir fällt nichts ein + Stop + Ich habe keine neuen Ideen + Stop + Was soll ich nur machen?“
Blankes Understatement. Denn Ulrichs, so zeigt die Ausstellung drei Stockwerke hoch, hatte ungewöhnliche Ideen genug. Und so provokant manche Ingolstädter Schau auch sonst ist, diesmal piekst sie besonders spitz: schon mit den überdimensionalen, angespitzten Mikado-Stäben im Erdgeschoss und weiter auf zwei Stockwerken mit unerschöpflichen Ideen. Die sparen auch Ulrichs selbst nicht aus: Wenn er Jahresringe einer Baumscheibe mit den Fotos der eigenen Geschichte verbindet (könnte man auch prima selber nachmachen) oder sich als nackter Blitzableiter auf freiem Feld zur Verfügung stellt (nicht zur Nachahmung empfohlen).
Man sieht manches, was als „konkrete Kunst“ nicht der Brüller ist, Studien in Moiré-Effekt oder den repetierten Theaterplakataufkleber – aber wer kennt sie noch, die rosarote Zahlkarte der Deutschen Bundespost, wer möchte nicht wissen, was sich die Leute so auf ihren Fernseher stellen an Häkeldeckchen-Nippes und Barbie-Lourdes-Ikonen – das Ganze gleich im Dutzend?

Zeige mir dein Wohnzimmer

Das interessiert Ulrichs: der Blickfang, nicht der Kunstwert. Und den haben auch die vielen Marx-, Stalin-, Leninbüsten aus Plastik längst verloren, die bei ihm in einen Trash-Korb wandern. Den haben die Käfer-Fressgänge in einer Baumrinde nie gehabt, denen Ulrichs hübschen Dekowert abgewinnt genauso wie den zu einem Saurier-Rückgrat gruppierten Steinbrocken.
Kunst finden, wo gar keine ist: Darin ist der Berliner, dessen Arbeiten jetzt in den Ingolstädter Museumsbestand aufgenommen werden, Meister. Zeige mir deine Wunde (Joseph Beuys) heißt bei ihm: sich satt saufende Blutegel auf den eigenen Arm und die Blutspuren als fast sakrales Opfer fotografiert. Zeige mir dein Wohnzimmer: Da führt er ein Kammerspiel auf und lässt zwei miefige Stehlampen einen Morse-Lichtzeichen-Dialog führen. Man passt besser auf, dass man im dritten Stock des Museums keinen Stromstoß kriegt, bevor man in die Porno-Asservatenkammer tritt: früher Provokation, heute Amusement. Genauso wie die Eheringe vom Ehepaar Ulrichs: vergoldete Musterbeutelklammern, als Kostbarkeit präsentiert wie beim Juwelier. (Uwe Mitsching) Abbildungen: Eine Europa-Karte entdeckte Ulrichs auf einem Bullenfell; außerdem entdeckte er, wie sich mit einem Klassiker die „Kritik der praktischen Vernunft“ anstellen lässt.  (Fotos: Museum für konkrete Kunst)

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