Kultur

Idylle bei hochsommerlichen Temperaturen im markgräflichen Orangerieambiente – aber was das Publikum beim Poetenfest hörte, griff brisante aktuelle politische Themen auf. (Foto: Georg Pöhlein)

31.08.2012

Politische Wirklichkeit – dichterische Wahrheit

Reger Zulauf beim 32. Poetenfest in Erlangen

Wenn das Poetische zum Seismografen des Politischen wird, wenn die Literatur jenseits aller Belletristik auf gesellschaftliche Verwerfungen verweist und ökonomische Beben und Krisen widerspiegelt, erschließt sie sich offenbar ein neues Publikum. Der Leser erbaut sich nicht mehr nur am Wahren, Guten und Schönen der Lyrik und Prosa, sondern sucht darin Antworten auf seine Fragen, Zweifel und Ängste. So mag sich der seit Jahren wachsende Zulauf erklären, den das Poetenfest in der Universitätsstadt Erlangen erfährt: Zum 32. Erlanger Poetenfest strömten am vergangenen Wochenende weit über 12 000 Menschen in den Schlossgarten, wo im Grünen mehr als 80 Schriftsteller, Literaturkritiker, Publizisten und Übersetzer zu Lesungen und Gesprächen, aber auch zu hitzigen Debatten und Kontroversen zusammenkamen. Aber nicht nur auf der grünen Wiese ging es hoch her, sondern auch in der frisch renovierten Orangerie und – zu meist nächtlicher Stunde – auch im barocken Markgrafentheater und seiner Redoute.
Was nicht wundert, ging es doch auf den hochkarätig besetzten Podien um Fragen wie „Wer hat die Macht im Staat? Sind wir auf dem Weg zur Postdemokratie?“ oder (frei nach Theo Sarrazins skandalumwitterten Pamphlet) „Schafft sich Europa ab? Ein Kontinent vor der Entscheidung“. Zur Diskussion standen auch das Nord-Süd- und das West-Ost-Gefälle in Europa. Bei letzterem stand Russland im Mittelpunkt, dessen Weg von der stalinistischen Diktatur – über die derzeit unter Putin „simulierte Demokratie“ – in die Autokratie fast schon als symptomatisch für die Entwicklung der „neuen Demokratien“ der Zweiten und Dritten Welt (im Nahen Osten wie im fernöstlichen Asien) angesehen wurde.

Neue Jugendrevolte

Denn wie es um die Menschenrechte und die freie Meinung in Russland bestellt ist, zeigte ganz aktuell die eigens aus Moskau angereiste (Comic-) Zeichnerin Viktoria Lomasko, die im Gerichtssaal den Prozess gegen „Pussy Riot“ verfolgte und in Zeichnungen (in Form so genannter Graphic Novels) festhielt.
Der Mut der jungen Frauen zum ungewöhnlichen Protest gegen Staat und kollaborierende Kirche wurde als Zeichen einer sich neu artikulierenden Revolte der Jugend gerühmt, die sich so wie die Occupy-Bewegung oder die Clowns-Armee empört – vielleicht ein Hoffnungsschimmer in einer vom Kapital dominierten Welt, die der Jugend kaum noch Chancen bietet. „Bei einer Arbeitslosigkeit von 30 Prozent hört die Demokratie auf“, konstatierte denn auch Matthias Greffrath (von der Nichtregierungsorganisation Attac) und machte angesichts der über 50 Prozent liegenden Jugendarbeitslosigkeit in einigen südeuropäischen Ländern ein neues „revolutionäres Subjekt“ aus, das sich nicht zuletzt auch von den Bürgerbewegungen in Europa nähre.
Denn die parlamentarische Demokratie bedürfe, so artikulierten es die politischen Podien des Poetenfests, einer „Instandbesetzung“, wenn sie sich nicht selbst „entmächtigen“ und zur „Zuschauer-Demokratie“ verkommen wolle. „Unter der Ägide des Kapitals“ laufe Europa Gefahr, zum Spielball einer unkontrollierten „Finanzspekulationsmaschinerie“ zu werden, die dem „Fetisch Wachstum“ kritiklos huldigt und einer „politischen Ökonomie“ das Wort redet, die sich der „politischen Vernunft“ längst entäußert habe. Die Frage, darin war man sich fast einmütig einig, lautet: „Demokratie oder Kapitalismus?“ Und diese Frage lasse sich wohl nur noch „alternativlos“ beantworten, wenn Europa sich mit „Gewalt, Korruption und Armut“ nicht der so genannten Dritten Welt nach und nach anverwandeln wolle.
Es waren die Schriftsteller, die gegen diesen auch auf das Publikum übergreifenden Pessimismus, das „Überlebensmittel Kultur“ und eine sich abzeichnende „Universalkultur“ ins Feld führten.
Diese Rückbesinnung auf die Literatur fand dann in den wunderbaren Lesungen unter freiem Himmel statt, wo die Zuhörer tröstlichen und ebenso weniger tröstlichen Texten lauschten, die Erzähler und Lyriker vortrugen.

Bizarre Debattenkultur

Auch bei den Autorenporträts im Erlanger Markgrafentheater ging es nicht um weltferne, abgehobene Passagen aus Büchern. Vielmehr rechnete der Romancier Uwe Timm, vorgestellt und befragt von der Literaturkritikerin Maike Abath, mit verhängnisvoller deutscher Geschichte ab, als er aus seinen Erinnerungen (Am Beispiel meines Bruders) an seinen 1943 im Krieg zu Tode verwundeten Bruders las; oder sich auch über die heute bizarr anmutenden Debattenkultur der „68er“ lustig machte, die trotz ihrer „Irrungen und Wirrungen“ zwar nicht die Welt, wohl aber die deutsche Nachkriegsgesellschaft nachhaltig änderten. Vorgestellt wurden dann auch noch die schottische Erfolgsautorin A. L. Kennedy, die aus ihrem neuesten Roman Das blaue Buch vorlas, und der belgische Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint, der aus seinem erst im Herbst in Deutsch erscheinenden Essay-Band Die Dringlichkeit und die Geduld rezitierte.
Eine große Hommage widmete das Erlanger Poetenfest als weiteren Höhepunkt der 2011 gestorbenen Schriftstellerin Christa Wolf. Weggefährten, Freunde und Zeitzeugen ließen in persönlichen Erinnerungen die DDR-Schriftstellerin, die wie keine zweite die nach der Wiedervereinigung (gesamt)deutsche Literatur repräsentierte, in Vita und Werk gleichsam wieder auferstehen.
Womit sich zum Abschluss des Poetenfests Poesie und Politik doch wieder verschränkten, politische Wirklichkeit und dichterische Wahrheit sich in ihrem wie immer spannenden dialektischen Verhältnis einander annäherten, wenn nicht sogar glücklich vereinten – wie es sich für das Erlanger Poetenfest traditionsgemäß auch geziemte. (Friedrich J. Bröder)

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