Kultur

Kann eine "Psycho-Physik" erklären, wie das Ich entsteht? Neurowissenschaftler und 700 Gäste zerbrachen sich in Nürnberg darüber den Kopf. (Foto: dpa)

11.10.2013

Rätselhafte Grammatik

Ein Symposium von Nürnbergs "Turm der Sinne" geht der Frage nach, wie das Gehirn das Ich kreiert

Das menschliche Gehirn ist einem Metaversum gleich, das mehr Rätsel aufgibt als das vergleichsweise gut erforschte Weltall. Mit seinen an die 100 Milliarden Nervenzellen und den 100 Billionen Synapsen, die diese Neuronen miteinander verknüpfen, stellt es den Kosmos mit seinen Galaxien und fast unendlich vielen Himmelskörpern zwar quantitativ noch nicht in den Schatten, wohl aber qualitativ. Denn jedes Neuron ist mit mindestens 1000 anderen Nervenzellen verknüpft: Das Gehirn führt als sich selbst organisierendes System ununterbrochen 1013 Rechenoperationen pro Sekunde aus.
An die Rechenleistung des menschlichen Gehirns kommt, nicht einmal annähernd, das Internet heran, wiewohl es als WorldWideWeb insofern dem Gehirn vergleichbar ist, als es das größte künstlich geschaffene System darstellt. So makaber der Vergleich auch sein mag: Neurowissenschaftlich gesehen, ist der Versuch, der in Misskredit geratenen NSA des amerikanischen Geheimdiensts, auf alle Computer und elektronischen Informationssysteme in der ganzen Welt zugreifen (und sie damit gleichsam „vernetzen“) zu können, ein erster Schritt, es dem Gehirn gleichzutun.

NSA arbeitet wie das Gehirn

Denn ganz ähnlich geht die neurowissenschaftliche Forschung vor, wenn sie „künstliche Intelligenz“ schaffen, also das Gehirn als Computer nachbauen will. Aber davon ist man, vielleicht glücklicherweise, noch weit entfernt, wie sich beim mittlerweile schon traditionellen Symposion der Neurowissenschaftler, (von der Institution „Turm der Sinne“ in Nürnberg gerade zum 16. Mal ausgerichtet), herausstellte. Denn die Grammatik des Gehirns oder gar die Syntax des Bewusstseins sind, wie die international renommierten Hirnforscher resümierten, allenfalls ansatzweise entschlüsselt: Man kennt zwar einzelne Buchstaben, ja vielleicht sogar das Alphabet des Gehirns, aber noch lange nicht dessen Sprache. Wie es „spricht“, wie es als isomorphe, also biologisch außerordentlich strukturierte Masse aus jedem Menschen ein einmaliges, originäres Individuum macht, ist wohl das größte Welträtsel.
Aber genau das hatten sich die zwölf Hirnforscher – von Neuromedizinern über Neurophysiologen und Neuropsychologen bis hin zu Neurophilosophen – vorgenommen: Das „Bewusstsein, das Selbst und das Ich“ (Veranstaltungsuntertitel) neurologisch dingfest zu machen, also dem, was den Menschen ausmacht und vermutlich vom Tier unterscheidet, auf die Spur zu kommen.

Zerebrale Gymnastik

Die Frage nach dem Ich ist nicht neu, denn schon der antiken wie der mittelalterlichen Philosophie, von Leibniz bis hin zu Kant, dem Philosophen der Aufklärung, war das Verhältnis von „Leib und Seele“, von „Körper und Geist“ ein Problem, das sie – weil nicht anders erklärbar – zum „Phänomen“ stilisierte. In der modernen Hirnforschung jagt man jedoch nicht mehr einer Chimäre hinterher, sondern fragt nach den „Neuronalen Korrelaten des Bewusstseins“: also danach, wie sich das Ich in dem schier unendlichen Strom der neuronalen Gewitter, die ständig unser Gehirn durchzucken, niederschlägt.
Dass das Bewusstsein, also das, was man gemeinhin den „Geist“ oder die „Seele“ des Menschen nennt, im Gehirn nicht verortbar ist, darüber ist man sich inzwischen einig. Man versteht das Gehirn nicht als mechanistisch funktionierenden Apparat, sondern stellt es sich als ein System vor, in dem unendlich viele neuronale Prozesse das hervorbringen, was man als Bewusstsein oder gar als Selbst-Bewusstsein, also als das Ich definieren könnte.
Was die Erforschung dieser an sich schon höchst diffizilen „zerebralen Gymnastik“ zusätzlich erschwert, ist, dass dieses dynamische Organ „Gehirn“ kein geschlossenes System ist, sondern ständig in Interaktion mit seiner Umwelt ist, also ununterbrochen und selbst noch im Schlaf und im Traum, ja selbst im Koma und Wach-Koma, Impulse von außen aufnimmt, sie – bewusst oder unbewusst – verarbeitet und darauf wiederum reagiert.
Es bedarf also, wie vor allem Christoph Koch, Neurowissenschaftler, Physiker und Informatiker, postulierte, mehr denn je einer „Theorie des Bewusstseins“, die – wenn man nicht von überholten Vorstellungen, von außer- und überirdischen Instanzen, von Metaphysik und Transzendenz ausgeht – den Naturgesetzen gehorcht. Was wissenschaftstheoretisch eine Herausforderung ist: Man müsste über die Physik hinausgehen und die Quantenphysik einbeziehen und somit eine „Psycho-Physik“ entwickeln. Mit dieser müsste man versuchen, Bewusstseinsvorgänge, also das Denken schlechthin, als an die Physis gebundene Prozesse zu analysieren und in der „funktionalen Architektur des Gehirns“ zu verankern.
Es geht also um die „Vermessung des Bewusstseins“, das man nicht einfach in einem „gehirnlichen Parallel-Universum“ ansiedeln kann, um es damit doch nicht zu erklären, sondern es wiederum nur zum „Phänomen“ zu stempeln. Das Gehirn, konstatierte der Neurophysiologe Wolf Singer, ist weder Uhrwerk noch Computer. Vielmehr ist es ein sich selbst ständig neu erfindendes System, erfüllt von einer ungeheuren Dynamik neuronaler Prozesse, die selbst Informationen (wie Fakten und Erinnerungen) nicht wie ein Computer an einer bestimmten Stelle im Gehirn abspeichern, sondern jeweils neu zusammensetzen.

Den Kopf zerbrechen

Bewusstsein entsteht also nicht als Konstrukt von Einzelteilen, sondern (re)konstruiert sich aus neuronalen Partikeln, die dann erst die „holistische“, die ganzheitliche Erfahrung bewirken. Das Gehirn ist nicht die Summe seiner Einzelteile, sondern weitaus mehr.
Aber genau darüber, über dieses „Mehr“, das unser Bewusstsein, unser Ich ausmacht, werden sich die Gehirnforscher wohl noch lange und nicht nur sprichwörtlich den Kopf zerbrechen. Denn das klassische Leib-Seele-Problem ist längst nicht gelöst, wie ausgerechnet der älteste anwesende Hirnforscher, der 83-jährige Neuropsychologe Norbert Bischof, zum Finale des Symposions (in der mit 700 Zuschauern ausverkauften Stadthalle Fürth, gleichsam als „Neuro-Skeptiker“ konstatierte. Und damit auf den Physiologen Emil Du Bois-Reymond rekurrierte, der 1872 die Erkenntniseuphorie der Naturwissenschaftler skeptisch mit dem Satz konterkarierte: „Ignoramus et ignorabimus“. Wir wissen es nicht und wir werden es nie wissen. (Fridrich J. Bröder)

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