Kultur

01.04.2010

Süffige Melodien im Niemandsland

Dmitri Tcherniakows Inszenierung von Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“ am Nationaltheater

Noch der Vorhang im Nationaltheater erinnert mit den monarchistischen Emblemen daran, was Bayern Frankreich verdankt; doch an die Komponisten der Grand Nation stattet es diesen Dank selten ab. So gilt die erste Verbeugung für eine bedeutende Interpretation der "Dialogues des Carmélites" dem sublim der vielschichtigen Musik nachspürenden Dirigenten Kent Nagano: ein halbes Jahrhundert nach der Scala-Uraufführung hat er endlich Francis Poulencs Meisterwerk in München vorgestellt. Die Oper greift ein blindwütiges Massaker der französischen Revolution auf, die Guillotinierung der Karmeliterinnen 1794. Nach Gertrud von le Forts Erzählung "Die Letzte am Schafott" und Georges Bernanos Dramatisierung "Die begnadete Angst" hat sich Poulenc das Libretto selbst geschrieben. Statt der Revolution stehen die von ihr Bedrohten im Zentrum, die Novizin Blanche, die freiwillig den Märtyrertod ihrer Mitschwestern teilt, die Mutter Oberin und ihr „natürliches“, seelisch zutiefst verstörendes Sterben. Die kontroversen letalen Ereignisse machen uns das Uneinsehbare und für uns Uneinsichtige göttlichen Ratschlusses bewusst: Der Autor will trotz religiöser Inbrunst und einfallsfrommer Musik nicht die finsteren und fragwürdigen Seiten des Glaubens verharmlosen. „Einfallsfromme Musik“: Für deutsche Ohren, die für Ernsthaftigkeit einen gefütterten Klangmantel erwarten, einen lastenden Orchestersatz, möglichst mit Fugen, und die Religiösem am liebsten im Feierkleid begegnen wollen – für sie hat Poulencs pedalloser Orchesterklang sicher etwas Provozierendes. Impressionistische Farben, Klangsinnlichkeit, Strawinsky-Anleihen, „Les Six“-Beschwingtheit, schier melodisch süffige Erfassung von Gemütsstimmungen, noble Linien zwischen Parlando und arioser Aufwallung, zuletzt der unerbittliche Trauermarsch mit dissonanten Katastrophen nach Terzenwonnen. Erstaunlich, dass Poulenc in der Hochzeit der Avantgarde 1957 solch ein den Zeitgeist verspottendes Werk komponierte. Höchst ungerecht, aus dem außergewöhnlichen Ensemble nur die Protagonisten zu nennen: ein Wunder an Beseelung Susan Gritton, der lebhafte Sonnenschein Helene Giulmette, die Abgründe aufreißende Sylvie Brunet, die vehemente Soile Isokoski. Dmitri Tcherniakow ist ein Meister der Charakterprofilierung, austariertes Stellungsspiel schafft Spannung. Trendgetreu siedelt er das zeitlich, sozial und geistig genau fixierte Stück im Niemandsland von heute an, Absurdität scheint willkommen. Auf leerer Bühne ein Einzimmergebäude: Kloster, Notherberge, Gefängnis, zuletzt Gaskammer, aus der die zurückgekehrte Blanche noch die um Atem Ringenden rettet, bevor sie explodiert. Eine szenische Brutalität, die die musikalisch grandiose Finalszene ruiniert. Darüber hinaus eine Schande, Auschwitz-Assoziationen zur Interessantmacherei einer fixen Regieidee zu wecken. (Klaus Adam)

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