Kultur

Vor vier Jahren wurde die "Lohengrin"-Premiere gnadenlos ausgebuht – jetzt liebt das Bayreuth-Publikum die Inszenierung und bejubelt vor allem Klaus Florian Vogt als Lohengrin; rechts vorne Edith Haller als Elsa von Brabant, links vorne Petra Lang als Ortrud. (Foto: dpa/Bayreuther Festspiele)

08.08.2014

Vom Buh- zum Jubelsturm

Bayreuther Festspiele ohne Neuinszenierung: Das funktioniert tatsächlich und eröffnet die Chance, eine Wagner-Werkstatt zu etablieren

Oft muss erst viel Zeit vergehen, bis sich das Neue ganz entfalten kann und sein Wert vollständig erkannt wird. Andererseits ist das Neue nicht immer auch das Bessere. Gerade deswegen ist größte Vorsicht geboten, wenn sich Festivals Jahr für Jahr von Neuproduktion zu Neuproduktion hangeln. Nicht selten steckt ein fast schon neurotischer Zwang nach „erneuernder Frische“ und „Jugendlichkeit“ dahinter. Auf diese Weise lässt sich aber kaum wirkliche Innovation erreichen, zumal das Neue und Junge eben nicht immer auch zwangsläufig Garanten für die Weiterentwicklung sind.
Umso wohltuender war es, dass die Bayreuther Wagner-Festspiele in diesem Jahr keine einzige Neuproduktion aus dem Hut gezaubert haben. Stattdessen wurden Produktionen gezeigt, die bereits Premiere hatten – wenn auch durchwegs aus der jüngeren Zeit und freilich in veränderten Besetzungen. Wie sehr dieser Weg grundsätzlich richtig und wichtig ist, zeigt die Geschichte der Bayreuther Festspiele selber.

Späte Zuneigung

Da wurde zum Beispiel die legendäre Inszenierung des Ring des Nibelungen von Patrice Chéreau, die 1976 unter Pierre Boulez Premiere hatte und heute gemeinhin als „Jahrhundertring“ gilt, zunächst vehement ausgebuht. Sie war seinerzeit ein regelrechter Skandal – samt Petitionen und Störaktionen. Am Ende wurde sie 1980 mit 101 Vorhängen verabschiedet. Auch die aktuelle Lohengrin-Inszenierung von Hans Neuenfels ist zum Publikumsliebling aufgestiegen. Wurde bei der Premiere 2010 noch gnadenlos gebuht, gab sich das Publikum jetzt mehrheitlich entzückt. Kanzlerin Angela Merkel hat sich die Produktion auch noch einmal angesehen.
Zum Tannhäuser von Sebastian Baumgarten, mit dem die diesjährigen Festspiele begannen, war sie nicht angereist – aus terminlichen Gründen, hieß es offiziell. Dass der aktuelle Tannhäuser, der 2011 Premiere hatte, jetzt ausgemustert wird, ist durchaus verständlich, denn: Was diese Inszenierung mit Wagners Oper zu tun hat, erschließt sich nicht wirklich. Er hat den Tannhäuser in eine Fabrik verfrachtet, in dem Menschen mit ihren Exkrementen Biogas produzieren. „Alle Kunst geht vom Volk aus“, prangt auf Monitoren – oder: „Kunst wird Tat“. Diese aufwendige Inszenierung ist im Grunde eine eigenständige Installation, der Bühnenbildner Joep van Lieshout nennt sie Technocrat.
Ist der Ärger um diesen Tannhäuser berechtigt? Nur bedingt, denn: Die Idee, dass Menschen zu Objekten mutieren, die ausgebeutet werden, steckt durchaus in Wagners Menschendramen – wenn auch anders.

Neuer Publikumsliebling

Wie irrational die Reaktionen des Bayreuther Publikums mitunter sind, offenbarte gerade der Vergleich zum jetzt fast einstimmig gefeierten Lohengrin. Neuenfels steckt den Chor – das Volk von Brabant – in Rattenkostümen. Noch dazu atmet die Szene die kühle Atmosphäre eines Versuchslabors. Man kann darin eine Versuchsanordnung über Liebe und Hass, Vertrauen und Verrat sehen, aber: Neuenfels geht es vielmehr um den Menschen in der Masse, deswegen die Ratten. Eine Art visualisierte Freud’sche Massenpsychologie hat Neuenfels im Sinn, gewürzt mit Ironie und Humor. Weil aber Neuenfels vor allem bebildert und nicht deutet, bleibt es letztlich auch hier nur bei einer guten Idee – wie beim Tannhäuser.
Dafür aber glänzte im Lohengrin die Besetzung, was vor allem für die fein- und scharfsinnige musikalische Leitung von Andris Nelsons galt. Nelsons entlockte dem großartigen Festspielorchester und dem bestens einstudierten Festspielchor einen unerhörten Farbenzauber. Als Elsa von Brabant steigerte sich Edith Haller, tadellos Petra Lang als Ortrud.
Einen Jubelsturm entfachte Klaus Florian Vogts textverständlicher, jugendlich-heller Lohengrin, obwohl seine Geschmeidigkeit bisweilen recht spitz und gestochen scharf wirkte. Vogt polarisiert ähnlich wie Jonas Kaufmanns baritonaler, gaumiger Tenor, so unterschiedlich ihre Stimmen auch sind. Und dennoch: Mit Kirill Petrenko, der auch diesmal den neuen Ring dirigierte, war Vogt der Publikumsliebling der diesjährigen Bayreuther Festspiele.
Von einer zeitkritischen, konzisen Deutung, wie sie Chéreaus einst mit seinen „Jahrhundertring“ vorlegte, ist Neuenfels‘ Lohengrin indessen so weit entfernt wie Pluto von der Sonne.

Schlummerndes Potenzial

Deswegen wäre es überaus erhellend, in Bayreuth auch rekonstruierte ältere Produktionen als direkten Vergleich zu präsentieren. Leider ist das nicht möglich, weil die Bayreuther Festspiele kein eigenes Bühnenlager haben. Nur vereinzelt werden wertvolle Kostüme und Requisiten aufbewahrt. Die Bühnenbilder selber werden in der Regel für Neuproduktionen wiederverwertet oder gleich an Opernhäuser weitergegeben.
Gerade für das jüngere Publikum ist dies ein erheblicher Verlust an Theatergeschichte. Zwar sind manche Produktionen wie der „Jahrhundertring“ auf DVD erhältlich, das ersetzt aber nicht den Live-Eindruck. In diesem Jahr wäre ein direkt erlebbarer Vergleich zwischen den aktuellen und älteren Lohengrin- und Tannhäuser-Regien überaus spannend gewesen.
Damit könnte sich Bayreuth als Werkstatt der szenischen Wagner-Interpretation präsentieren, hier schlummern gewaltige Potenziale. (Marco Frei)

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