Kultur

Großartige Schauspielerleistung: Louisa von Spies, Julia Bartolome, Stefan Willi Wang. (Foto: Staatstheater)

27.02.2015

Vom Castor-Container in den Babuschka-Bauch

"Kinder der Sonne" ist zu effekthascherisch

Nach dreieinhalb Stunden eines bildgewaltigen, überwältigend inszenierten Bühnenmarathons endet die Flucht in die Innerlichkeit in einem Massaker. Und die feine, russische Gesellschaft sucht im Bauch einer riesigen Babuschka Schutz vor dem eindringenden, verelendeten Pöbel, der in die Scheinwelt der Intelligentsia eindringt und ihre heile Welt zerstört.
Sascha Hawemann inszeniert am Staatstheater Nürnberg Maxim Gorkis Kinder der Sonne und verschränkt die (bis vor Kurzem noch recht unbekannte) Tragikomödie des russischen Dramatikers (1868 bis 1936) mit Szenen aus dessen wohl bekanntestem Stück Nachtasyl. Mit diesem Regie-Einfall möbelt die effektvolle, actionreiche Inszenierung Gorkis Sittengemälde einer sterbenden Gesellschaft zur kafkaesken Groteske auf.

Degeneriert und depressiv

Die deprimierende Psychopathologie des Figurenarsenals eines weltfremden Pflanzenforschers, eines degenerierten Künstlers, eines depressiven Tierarztes und dreier dekadenter, in Weltschmerz und Langeweile sich ergehender Frauen wird durch den Einbruch zweier Gestalten aus Gorkis Nachtaysl zum „Spiel im Spiel“: Zwei Clowns (Thomas L. Dietz und Philipp Weigand) erheitern mit Slapsticks, Gags und allerlei Klamauk nicht nur die in Melancholie und Selbstmitleid ertrinkende Salongesellschaft auf der Bühne, sondern auch das Publikum im Zuschauerraum.
Mit seinem vor dem Hintergrund der russischen Revolution von 1905 und des „Petersburger Blutsonntags“ entstandenen Stück (1905 uraufgeführt) zielte Gorki auf ein „astronomisches Schauspiel“, in dem die „Kinder der Sonne“ wie Planeten um die Sonne kreisen und sich dabei nur um sich selbst drehen, während auf den anderen Planeten die Hölle los ist.
Die Hölle, das sind die anderen, die Armen aus der Unterschicht, die in die Welt der Oberschicht einbrechen. Für die steht der Welt- und Landwirtschaftsverbesserer Pawel, den Stefan Willi Wang als wirren, weltfernen Wissenschaftler spielt, der seine gezüchteten Pflanzen gießt und mit der Obstbaumspritze auch mal seine extravagante, exzentrische Frau Jelena trifft, die Louisa von Spies als leicht einfältiges Luxusweibchen spielt.

Welten prallen aufeinander

Daneben Karen Dahmen als liebestolle, reiche Witwe Melanija, die dem immer um Geld für seine Forschung ringenden Pawel nicht nur ihr Geld, sondern auch sich selbst andient; und Pawels depressive Schwester Lisa, die Julia Bartolome zur hysterisch aufgeschrillten Idealistin auf der vergeblichen Suche nach dem Guten im Menschen beziehungsweise nach guten Menschen hochstilisiert.
Als Jonathan-Meese-Verschnitt bringt Julian Keck als Künstler Wagin die Kunst in die Sinn-Suche ein, die freilich Stefan Lorch als trinkendes, gewalttätiges und seine Frau fast zu Tode prügelndes Faktotum Jegor auf den Boden der ernüchternden russischen Realität der Zaren-Aufstände zurückholt. Zwei Welten prallen da aufeinander, was ein transparenter Plastikvorhang überdeutlich symbolisiert (Bühnenbild Wolf Gutjahr), hinter dem eine die Bühne in ganzer Breite füllende Bücherwand sichtbar wird.
Aber dann, nach der Pause, überschlagen sich nicht nur die Ereignisse, sondern auch die Regie-Einfälle, die sich freilich auch gegenseitig erschlagen: eine Cholera-Epidemie geht draußen um, die aber recht eigentlich nur für die Revolution steht, die als blutiger Einbruch des Irrationalen die Welt der „Kinder der Sonne“ verdunkelt: Die Bücherwelt geht in einem vandalistischen Bücher-Chaos unter; die Oberschicht flüchtet sich in einen Castor-Container, um von den Aufständischen nicht kontaminiert zu werden. Der bildungselitäre Gutmensch Pawel wird in einer Art Kreuzigungsszene geteert und gefoltert, während der Revolutionsanführer pathetische Menschheitsbeglückungsphrasen ins Megaphon brüllt.
Zum Schluss flüchten die „Kinder der Sonne“, die im Licht stehen, vor denen, die man im Dunkeln nicht sieht, ins finstere Innere einer riesigen Babuschka-Puppe. Das Volk steht auf, der Sturm bricht los und eine effektvolle, zuweilen aber auch effekthascherische Aufführung, die sich manchmal selbst um ihre eindrucksvolle Wirkung bringt, ist aus.
Heftiger Beifall, wohl vor allem für die Darsteller und einen alle Register der Bühnentechnik ziehenden Bühnenbildner. (Fridrich J. Bröder)

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche

Ist das geplante Demokratiefördergesetz sinnvoll?

Unser Pro und Contra jede Woche neu
Diskutieren Sie mit!

Die Frage der Woche – Archiv
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2023

Nächster Erscheinungstermin:
29. November 2024

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 24.11.2023 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.