Den Lauf der Zeit kann auch die Kunst nicht anhalten, wohl aber den Leerlauf der Zeit sichtbar machen. In der Kunsthalle Nürnberg bedarf es dazu nur dreier Autoräder, die sich – an einer Wand installiert und von einem Elektromotor angetrieben – so rasend schnell drehen, dass der Abrieb des Gummis der Reifen nicht nur quietschend hörbar und penetrant verbrannt riechbar, sondern auch sichtbar wird, weil sich zusehends das Reifenprofil abnutzt und in kleinen schwarzen Häufchen am Boden ansammelt.
Vielleicht ist es die ländlich-bäuerliche Herkunft Michael Sailstorfers, die den aus dem niederbayerischen Velden stammenden, heute in Berlin arbeitenden Künstler auf solch verrückte Ideen kommen lässt. So hält er in seinem Videofilm Raketenbaum fest, wie er einen Zwetschgenbaum auf dem heimischen Hof mit Stamm, Ästen und Wurzelstock so aus dem Boden sprengte, dass der Baum wie eine Geistererscheinung über dem Boden schwebt: Ein nur Sekunden dauernder Vorgang samt Explosionsknall dehnt sich – in Zeitlupe – zum dramatischen Vorgang.
Blank geputzter Wald
Wie Kunst nicht durch Hinzu- und Zusammenfügen, sondern durch Wegnehmen entstehen kann, offenbart auf stupende Weise Sailstorfers Arbeit Schwarz-Wald: er säuberte, putzte, reinigte ein 25 Quadratmeter großes Stück Waldfläche bis auf den blanken Waldboden, färbte die Fläche schwarz ein, so dass sie wie Malewitschs berühmtes Schwarzes Quadrat in geometrischer Künstlichkeit aus dem ungeordneten Chaos der Natur hervorstach, im Laufe der Zeit aber von der Natur wieder vereinnahmt wurde, weil Gras über die Kunstaktion wuchs.
Mit seinen technisch höchst aufwändigen Installationen und Skulpturen visualisiert der Künstler nicht nur Raum und Zeit, sondern auch das Werden und Vergehen von Kunst, eine radikal zu Ende gedachte Konzeptkunst, die den Kunstbegriff dialektisch auf den Kopf stellt oder gar ad absurdum führt: Wenn Sailstorfer 17 Skulpturen in der Tiefsee in allen Ozeanen der Welt auf den Boden des Meeres versenkt und damit ein Kunstwerk für immer verschwinden lässt und unsichtbar macht, obwohl es materiell noch vorhanden ist, zwingt das den Betrachter nolens volens zur tiefsinnigen Reflexion über den wahren Charakter von Kunst. So wie er umgekehrt in der wunderbaren Arbeit Abriss der dunklen Seite des Mondes mit einer imaginativen Mondlandschaft aus einem dunklen Foliengebirge die ja nur von der Erde aus dunkle, tatsächlich aber auch von der Sonne beschienene Rückseite des Mondes in ein mythisches Licht rückt, in das der Besucher mit Phantasie und Vorstellungskraft eintauchen kann.
(Friedrich J. Bröder)
Bis 20. November. Kunsthalle Nürnberg, Lorenzer Straße 32, 90402 Nürnberg.