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Die EU rechnet nächstes Jahr mit 900 000 neuen Flüchtlingen in Europa – genauso viele Menschen wie jährlich in Deutschland sterben. (Foto: dpa)

17.07.2015

Mehr Geld für Flüchtlinge und Einheimische

SPD-Asylgipfel: Experten fordern zusätzliche Finanzmittel, sicherere Migrationsmöglichkeiten, einen faireren Verteilungsschlüssel – und weniger Gleichgültigkeit

Seit dem Jahr 2000 sind mehr als 25 000 Menschen auf der Flucht nach Europa im Mittelmeer ertrunken. „Und täglich gibt es neue Opfer“, mahnt SPD-Fraktionsvize Hans-Ulrich Pfaffmann bei der Podiumsdiskussion „Friedhof Mittelmeer?“ im Maximilianeum. Deswegen sei es wichtig, endlich legale Einreisemöglichkeiten für Flüchtlinge zu schaffen – und gleichzeitig bei der Aufnahme in Bayern die Spaltung der Kommunen zu verhindern. „Flüchtlingspolitik ist das Megathema schlechthin und wird uns noch die nächsten Jahrzehnte begleiten“, prognostiziert Pfaffmann. Dennoch stelle er in der Europäischen Union, im Bund und in den Ländern eine gewisse Sprachlosigkeit bei diesem Thema fest. „Das will ich nicht mehr akzeptieren.“

Sichere und legale Migrationswege fordert auch die SPD-Abgeordnete im EU-Parlament Birgit Sippel. Denn es gebe sonst kaum andere Möglichkeiten, als sich weiter an Schlepper zu wenden. „Keiner nimmt den Weg übers Mittelmeer in Kauf, weil es so nett ist, mit dem Boot nach Europa zu schippern“, verdeutlicht sie. Dass es bisher noch keine einheitlichen Aufnahmeverfahren in Europa gibt, erklärt die Abgeordnete mit der unterschiedlichen Geschichte der einzelnen Ländern – vor allem Osteuropas. „Manche denken, sie können sich die nettesten Flüchtlinge aussuchen“, erzählt Sippel. Dabei könne beispielsweise das kleine Malta vor der nordafrikanischen Küste auch mit einem höheren finanziellen Ausgleich kaum noch Flüchtlinge aufnehmen. Daher müsste auf die Mitgliedsstaaten zukünftig mehr Druck ausgeübt werden.

Mehr Geld für Anliegen der Bürger - durch Flüchtlinge

Wie eine faire Verteilung der Flüchtlinge zwischen den Ländern aussehen kann, untersuchte Steffen Angenendt von der Stiftung Wissenschaft und Politik, die unter anderem die Bundesregierung berät. Er kritisiert insbesondere das „Dublin-System“, bei dem der Staat der Ersteinreise für das Asylverfahren zuständig ist. „Selbst wenn jetzt ein EU-weiter Verteilungsschlüssel kommt, bin ich skeptisch, ob dieser trägt“, erläutert der Wissenschaftler. Er fordert eine Politik von unten nach oben, weil sich viele kleine Staaten beziehungsweise Städte nicht ausreichend gefragt fühlen. Außerdem schlägt Angenendt vor, den Kommunen das Geld für die Aufnahme von Asylbewerbern direkt und doppelt auszuzahlen. „Das ist ein Anreiz für Gemeinden, mehr Flüchtlinge aufzunehmen und führt zu einem Wettbewerb.“ Zusätzlich sei im Stadtsäckel mehr Geld für die Anliegen der Bürger vorhanden. Nicht zuletzt könne durch den Zuzug der „unglaublich ungünstigen“ demografischen Entwicklung entgegengewirkt werden.   

Der Leiter der Abteilung Asyl der Europäischen Kommission Matthias Oel räumt zwar ein, dass die EU mehr Geld für sichere und schnellere Verfahren ausgeben muss. „In den letzten sechs Wochen wurden aber eine halbe Milliarde Euro zusätzliche Finanzmittel locker gemacht“, betont er. Außerdem stellt Oel unter der luxemburgischen EU-Ratspräsidentschaft ein komplett verändertes Klima bei den Verhandlungen fest: „Der Wille und das Bewusstsein sind da.“ Jeder wisse, dass ansonsten die Idee des Schengen-Raums mit seinem freien Personenverkehr auf dem Spiel stehe. Vertragsstrafen für aufnahmeunwillige Staaten lehnt er ab.

Bernd Mesovic von Pro Asyl überzeugt das Konzept nicht. „Die EU verschließt die Augen vor den Tatsachen und pflegt ihre Festungspolitik“, schimpft der stellvertretende Geschäftsführer. Ein ergebnisloser Gipfel jage den anderen. Und neun Themen des Zehn-Punkte-Plans infolge der Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer vom April dienten nur der Abschottung. „Dabei führte die europäische Geschichte bisher zum Abbau von Grenzen“, erklärt Mesovic. Jetzt sei mit der Errichtung von Grenzzäunen in Griechenland, Bulgarien und Ungarn eine gegenläufige Bewegung zu beobachten. Er befürchtet, dass es durch die Zerstörung von Schlepperbooten zukünftig auch noch zu Kollateralschäden kommt – „das sind tote Menschen“, ruft er den Zuhörern ins Gedächtnis.

Dem Pfarrer kommt am Stammtisch "das Kotzen"

Wirksame Vertragsstrafen bei Unterschreitung der Flüchtlingsaufnahmequote verlangt auch Linus Förster (SPD), stellvertretender Vorsitzender des Landtagsausschusses für Bundes- und Europaangelegenheiten. „Die Situation in Europa ist ähnlich wie die im Freistaat, wo sich einige Städte sehr intensiv, andere nur sehr zögerlich engagieren.“ Parteikollege Pfaffmann ergänzt: „Helfen kann man auch durch Unterlassung.“ Zum Beispiel indem die CSU nicht mehr davon spreche, dass „das Boot voll“ ist oder das Abendland „bis zur letzten Patrone“ verteidigt werde. „Dadurch können wir die Spaltung der Gesellschaft reduzieren.“

Eine „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ beklagt Pfarrer Rainer Maria Schießler von der Katholischen Gemeinde St. Maximilian in München. Nach seiner Teilnahme an einer Anti-Pegida-Demo habe er einen anonymen Anruf erhalten. „Willst du den Muezzin jetzt auf den Kirchturm rauflassen“, habe der Anrufer gefragt. Schießler antwortete: „Wo soll ich die denn hintun? Wir leben doch nicht auf einem Satelliten.“ Bei einem Wirtshausgespräch über Flüchtlinge sei ihm bei manchen Äußerungen sogar „das Kotzen“ gekommen. „Und am Sonntag sitzen genau die dann wieder alle vor mir in der Kirche.“ Die Angst vor Fremdem, räumt der Pfarrer ein, sei zwar eine Grundgegebenheit – aber beherrschbar. Das müsse die Kirche jetzt im Rahmen ihres christlichen Auftrags lehren. Egal ob wegen purer Armut oder der politischen Verhältnisse, unterstreicht Schießler, man müsse den Menschen helfen. „Also pack ma’s o!“ (David Lohmann)

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