Landtag

In Bayern gibt es zu wenig interkulturelle Gesundheitsangebote. (Foto: DAPD)

03.02.2012

Sprach-Defizite führen zu Fehldiagnosen

SPD-Fachgespräch: Türkischsprachige Psychiaterin Elif Cindik klärt über das Gesundheitsrisiko Migration auf

Unkenntnis der Lebensumstände von Migranten und sprachliche Missverständnisse führen oft zu mangelhafter medizinischer Prävention oder Fehldiagnosen. Gezielte Aufklärung und interkulturelle Behandlungsmethoden könnten für Abhilfe sorgen. Allerdings ist Migration als Gesundheitsrisiko weitgehend unbekannt.
Die Symptome waren alarmierend: heftige Schmerzen bei hoher Körpertemperatur. Dennoch konnten mehrere Ärzte sie nicht zuordnen. Erst der siebte Mediziner, den die türkischstämmige Frau wegen des Zustands ihrer kleinen Tochter konsultierte, stellte die korrekte Diagnose: Mittelmeerfieber. Als Grieche und somit von mediterraner Herkunft kannte er – im Gegensatz zu seinen deutschen Kollegen – die seltene Erbkrankheit, die überwiegend Mittelmeer-Anrainer betrifft.

Fehldiagnosen wegen sprachlicher Barrieren

Elif Cindik, Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, berichtete von dieser Begebenheit während des Fachgesprächs „Gesundheitsrisiko Migration?“ im Rahmen der SPD-Veranstaltungsreihe „Mittendrin statt parallel – für eine Willkommenskultur in Bayern“. Gemeinsam mit Isabell Zacharias, migrationspolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion, und Kathrin Sonnenholzner, gesundheitspolitische Sprecherin der Sozialdemokraten im bayerischen Landtag, plädiert sie für interkulturelle Behandlungsmethoden. Diese sollen allen Medizinern bereits während des Studiums und bei anschließenden Weiter- und Fortbildungen vermittelt werden. Dabei sollen sie lernen, bei ihrer Anamnese sowohl die ethnische Herkunft als auch die aktuellen Lebensumstände ihrer Patienten mit Migrationshintergrund zu berücksichtigen.
Cindik ist in mancherlei Hinsicht ein Solitär: Zum einen ist sie die einzige türkischstämmige Psychiaterin in München und Umgebung. Zum anderen ist sie die einzige Referentin, die an der bayerischen Ärztekammer über Notwendigkeit und Inhalt interkultureller Behandlungsmethoden doziert. Mehr noch, Cindik hat das Thema dort eingeführt. „Ich würde mich freuen, wenn noch mehr Kollegen mitmachen würden“, sagte die Medizinerin, die in Frankfurt und an der berühmten Harvard-Universität studiert hat.
Erfahrungen aus der Praxis unterstreichen die Wichtigkeit von Cindiks Vorstoß: Die Gesundheit von Migranten unterscheidet sich von der der deutschen Bevölkerung aus vielen unterschiedlichen Gründen, genetischen wie sozioökonomischen. Beispielsweise weicht das Krankheitsspektrum in anderen Ländern von dem in Deutschland ab, siehe Mittelmeerfieber. Wegen sprachlicher Schwierigkeiten suchen Migranten häufig mehrere Ärzte auf, erhalten nicht selten unterschiedliche Diagnosen und in der Folge eine Vielzahl an Medikamenten. Im Bereich der Vorsorge wird festgestellt, dass Kinder mit Migrationshintergrund seltener als deutsche Kinder an den Früherkennungsuntersuchungen U1 bis U9 teilnehmen. Auch das Gesundheitsverhalten von Migranten und einheimischer Bevölkerung unterscheidet sich: Während Migranten weniger Alkohol trinken als Deutsche, rauchen sie mehr und betreiben weniger Sport als jene.
Außerdem suchen Menschen mit Migrationshintergrund seltener einen Arzt oder ein Krankenhaus auf als der Rest der Bevölkerung. Unter anderem hat dies laut Cindik auch damit zu tun, dass sie Verständigungsschwierigkeiten befürchten. Neben Medizinern, die die Muttersprache der Patienten beherrschen, könnten Dolmetscher hier Vertrauen schaffen. „Die können aber auch eine deutliche Störung des Arzt-Patienten-Verhältnisses sein“, gab Sonnenholzner, selber Medizinerin, zu bedenken.
Auch im Bereich der Pflege sieht die gesundheitspolitische Sprecherin den Rückzug auf die eigenen Wurzeln nicht unbedingt positiv. So kommentierte sie den Vorschlag eines Zuhörers, Altenheime speziell für Migranten zu gründen: „Ich bin strikt gegen eine solche Ghettoisierung.“ Sinnvoller sei es, wenn Migranten in herkömmlichen Altenheimen einen Platz bekämen und dort unter anderem von Muttersprachlern betreut würden.
Bestehende Altenheime sollten sich interkulturell öffnen, muslimische dürften jedoch nicht tabuisiert werden, erklärte Mitra Sharifi-Neystanak. Die ehrenamtliche Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Ausländer-, Migranten- und Integrationsbeiräte Bayerns (AGABY), war ebenfalls unter den Zuhörern des Fachgesprächs und argumentierte in Sachen Altenheime auf diese Weise: Auch die israelitische Kultusgemeinde betreibe in der Bundesrepublik Seniorenunterkünfte für ihre Mitglieder. Sharifi: „Dagegen hat doch auch niemand etwas einzuwenden.“
Den Einwand, dass die Nachfrage für Altenheimplätze unter Migranten generell nicht so hoch sei, konterten sowohl Cindik als auch Sharifi. Die vergleichsweise niedrige Nachfrage sei vielmehr dem geringen adäquaten Angebot geschuldet. Cindik verwies auf ein türkisches Altenheim in Hamburg, das sehr gut angenommen werde.
Beide Frauen verwiesen auf sich wandelnde Strukturen bei vielen Migrantenfamilien: „Die Pflege der Alten übernehmen auch hier nicht mehr die Schwiegertöchter“, sagte Sharifi. In der Tat herrschen in der deutschen Gesellschaft Vorstellungen über ausländische Großfamilien vor, in denen die jüngeren Generationen für die älteren aufkommen. Dies aber ist zunehmend weniger der Fall.
Überhaupt muss man sich hierzulande über eines bewusst werden: Migranten der ersten Generation durften als Arbeitskräfte nur deshalb nach Deutschland einwandern, weil sie kerngesund waren. Ergo „belasteten“ sie das hiesige Gesundheitssystem vergleichsweise wenig. Mittlerweise sind diese Menschen jedoch gealtert und naturgemäß gebrechlich. Deshalb steht ihnen eine auf sie zugeschnittene Versorgung zu – auf dass ihre Krankheiten „Vergangenheit sein mögen“. Diese tiefsinnige Redewendung ist im Türkischen nämlich das Pendant des deutschen „Gute Besserung“.
(Alexandra Kournioti)

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