Landtag

08.10.2010

"Wir kennen uns viel zu wenig"

Markus Rinderspacher, Mark Terkessidis, Lale Akgün, Bülent Tulay und Andreas Bönte über Integration

In Familien von Ausländern herrschen patriarchale Strukturen. Ihre Mitglieder sprechen allenfalls schlecht Deutsch. Sie wohnen bevorzugt in Ghettos. Und Bildung lehnen sie als direkten Weg in die Aufmüpfigkeit ebenso ab, wie sie das Tragen von Mini-Röcken ihren Frauen und Töchtern aus religiösen Gründen verbieten. Das ist aber nur ein Teil der Vorurteile gegenüber Migranten und Ausländern. Xenophobie gibt es allerorten und speist sich aus Verallgemeinerungen. Positives wird dabei ausgeblendet. „Wir gucken nur Probleme an, nicht das, was funktioniert.“
Diese Meinung vertritt der Publizist Mark Terkessidis. Diese hat der bekannte Migrationsforscher jüngst auch im Münchner Maximilianeum vertreten.


Auch deutsche Kinder haben Sprachprobleme


Anlass war die Diskussion „Vielfalt in der Einheit“ im Rahmen der Reihe „Talk im Max“, die die SPD-Landtagsfraktion regelmäßig veranstaltet. Moderiert wird sie vom ehemaligen SPD-Landtagsabgeordneten Peter Hufe. Terkessidis hat ein Problem mit dem Begriff Integration, wie der promovierte Psychologe und taz-Autor erklärte. „Der legt nämlich nahe, Migranten hätten Defizite, die man mit kompensatorischen Bemühungen ausgleichen müsste“, sagte der 44-Jährige. Und: „Wir diskutieren Migration meistens am Beispiel Neukölln. Das ist der Fehler.“
Dabei gebe es durchaus andere Orte wie beispielsweise die Stadt Stuttgart. Dort sei auch angesichts eines engagierten Oberbürgermeisters „vieles schon gut“.
Sprache habe entgegen der landläufigen Meinung nicht notwendigerweise etwas mit Integration zu tun. Zumindest nicht in der Form, mit der sie momentan überwiegend vermittelt wird: Kinder mit Migrationshintergrund in einer Sonderklasse zu unterrichten, führe zu Stigmatisierung. Überdies habe eine Studie ergeben, dass auch 20 Prozent der deutschen Kindergartenkinder verbale Unzulänglichkeiten hätten. „Sprachunterricht muss in den Regelunterricht integriert werden“, fordert Terkessidis. Ergo: Der Regelbetrieb müsse geändert werden.
Dem stimmt auch Lale Akgün, ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete, zu: „Bildung ist eine notwendige, aber keine hinreichende Möglichkeit“, sagte die 57-Jährige. Tatsächlich fänden Migranten in Deutschland in Sachen Bildung und Arbeit schneller Anschluss als in Ländern wie Frankreich und der Schweiz. Nicht die soziale Integration sei also hierzulande ein Problem; die identifikatorische indes sehr wohl. Es werde nach wie vor in Wir-und-ihr-Strukturen gedacht. „Viele glauben immer noch über Migranten: ,Sie werden schon wieder verschwinden’.“
Diese Denkweise überrascht Markus Rinderspacher, Fraktionschef der SPD im bayerischen Landtag, nicht: „Schließlich haben wir in Bayern einen Innenminister, der wider besseren Wissens immer wieder betont, der Freistaat sei kein Einwanderungsland“, monierte er. Herrmanns Standpunkt sei keine Einzelmeinung. Zumindest in der Vergangenheit habe ihn die gesamte Rechte geteilt.
Dabei handele es sich allerdings nur um eine von zwei Lebenslügen, die die Politik in Deutschland aufgebaut habe. Die Linke – und zu ihr zählt Rinderspacher auch Vertreter aus seiner eigenen Partei – habe sich lange vorgemacht, das Thema Migration werde sich von selber regulieren. Das werde es aber nicht.
„Migranten können mehr als Döner verkaufen und bei der Straßenreinigung arbeiten.“ Diese Tatsache muss laut Bülent Tulay, Vorsitzender der deutsch-türkischen Wirtschaftsvereinigung, in die Köpfe aller Menschen vordringen. Nicht zuletzt aus pragmatischen Gründen: Der Fachkräftemangel beunruhige alle großen Firmen. Vermehrt Migranten auszubilden und einzustellen, sei deshalb „keine politische Entscheidung, sondern eine Notwendigkeit“. In diesem Sinne kooperiere sein Verein mit der Bundesagentur für Arbeit, um türkischen Frauen nach einer längeren Pause den Wiedereinstieg in den Beruf zu ermöglichen.
Ständig an Problemen zu laborieren und Barrieren auszumachen, sei „typisch deutsch“, findet Andreas Bönte, Programmbereichsleiter des Bayerischen Rundfunks. Und er fügte in Anspielung auf das Verhältnis zwischen Einheimischen und Zugewanderten hinzu: „Wir kennen uns viel zu wenig.“
In der Tat: Inzwischen hat deutschlandweit jedes dritte Kind unter sechs Jahren einen Migrationshintergrund, wie Moderator Hufe vorrechnete. Dennoch werde nicht wahrgenommen, dass es sich bei Migranten keineswegs um eine soziokulturell homogene Gruppe handele.
Das wiederum hat laut Akgün einen ganz bestimmten Grund: „Wir überschätzen häufig die ethnische Zusammengehörigkeit und übersehen die sozialen Zusammenhänge“, findet die promovierte Psychotherapeutin. Ihrer Meinung nach hat eine sozial benachteiligte deutsche Familie viel gemeinsam mit einer vergleichbar gestellten türkischen Familie. Mehr jedenfalls als mit der deutschen Mittelschicht. Letztere wiederum zeige deutliche Parallelen zu einer vergleichsweise sozialisierten türkischen Familie.
Kulturelle Bereicherung
wird oft ignoriert
Vor allem eines läuft laut Terkessidis in Sachen Integration falsch: Man versuche, neue Leute in alte Strukturen zu pressen. Dabei werde ignoriert, dass diese Menschen ihre eigene Kultur und Geschichte mitbringen und dies eine Bereicherung für die gesamte Gesellschaft sein könnte. Ein treffendes Beispiel sei die deutsche Wiedervereinigung: „Da wurde ein Land vom anderen verschluckt. Statt zu denken, das ist ein neues Land.“(Alexandra Kournioti)

Ausstrahlungstermin:


„Talk im Max“, Vielfalt in der Einheit, Samstag, 9.10., 22.30 Uhr, br alpha.

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