Kuh- und Kirchenglocken, krähende Hähne, gackernde Hühner – immer häufiger gibt es Beschwerden über den angeblichen Lärm in der Provinz
Für Sebastian Urban geht es um nicht weniger als den „Erhalt der bayerischen Lebenskultur“. Zu den Kühen im Voralpenraum gehörten nun einmal Glocken, findet er. „Das ist einfach schön und bei uns Brauch.“ Der Mann aus dem Landkreis Miesbach verfolgte deshalb aufmerksam einen bizarren Streit, der seit einiger Zeit die Gerichte und viele Menschen im bayerischen Oberland beschäftigt. Ein nach Holzkirchen zugezogener Unternehmer hatte vor dem Landgericht München gegen eine Bäuerin geklagt, deren Kühe vor seinem Haus weiden – mit Glocken.
Urban war extra zum Gerichtsverfahren nach München gefahren – um die Bauernhöfe seiner Region zu unterstützen, wie er sagt. „Das sind oft ja noch Familienbetriebe. Solche Beschwerden gehen gar nicht“, findet er. Deshalb wollte er sich mit der betroffenen Bäuerin Regina Killer solidarisch zeigen. Bei dem Münchner Prozess wurde schnell klar, dass es dem klagenden Unternehmer nicht nur um den Lärm der Kuhglocken, sondern auch um den Gestank, den die Tiere verursachen, geht – den nämlich findet Urban nicht weniger unerträglich. Tatsächlich entschied das Landgericht aber zugunsten der Landwirtin und gegen den klagenden Unternehmer, der 2013 wegen der herrlichen Ruhe in den Landkreis Miesbach gezogen war.
Doch mit dem Urteil ist die Gefahr für die bayerische Lebenskultur aus Sicht von vielen Bewohnern der Region noch nicht abgewendet. Denn der Rechtsstreit wird wohl spätestens in einigen Monaten in die nächste Runde gehen. Bereits 2015 hatte das Amtsgericht Miesbach im Holzkirchner Kuhglocken-Streit erstmals verhandelt. Der zugezogene Nachbar hatte geklagt, die Glocken seien so laut wie ein Presslufthammer. Der Kläger und die Bäuerin schlossen auf Druck des Gerichts einen Vergleich. Dieser sieht vor, dass die Kühe auf einer Hälfte der Weide mit Glocken grasen dürfen. Das Landgericht München sah diesen Vergleich in seinem jüngsten Urteil als bindend an, weshalb es die Klage abschmetterte. Doch mittlerweile hat die Frau des Unternehmers eine eigene Lärmschutz-Klage eingereicht. Deshalb wird wohl erneut ein Richter abwägen müssen, was mehr wiegt: die Traditionen der einheimischen Bevölkerung oder das Ruhebedürfnis eines zugezogenen Ehepaars.
Und dieser bizarre Streit ist keineswegs der erste, mit dem sich bayerische Gerichte beschäftigen müssen. Immer wieder hat es in den vergangenen Jahren Beschwerden über Kuhglocken gegeben, die mitunter auch vor Gericht landeten. So etwa in Bad Reichenhall. Dort endete eine Klage mit einem Vergleich, der das Tragen der Glocken deutlich einschränkte. 2015 hatte es eine für den ländlichen Raum regelrechte Großdemo gegen ein von einem Gericht zunächst verhängtes Glockenverbot gegeben – 150 Menschen waren lautstark durch das bei Touristen beliebte Städtchen gezogen. In Rottach-Egern beschäftige sich im Jahr 2017 der Gemeinderat mit der Beschwerde über zu laute Kuhglocken. Dort sieht man jedoch keinen Handlungsbedarf.
„Ein Güllewagen riecht, ein Schwein grunzt zu laut oder ein Hund bellt zu oft“
Aber nicht nur Kuhglocken produzieren immer wieder Streit. In den vergangenen Jahren gab es im Freistaat auch eine Vielzahl an Klagen gegen Kirchenglocken. Gerichte mussten sich zuletzt etwa mit Beschwerden von Bürgern in Aschaffenburg, Haundorf in Franken oder Gilching bei München beschäftigen. Und im oberbayerischen Fürstenfeldbruck störte sich ein Nachbar am traditionellen Angelus-Läuten, 7 Uhr morgens sei ihm einfach zu früh. Aufgrund seiner Klage läuten die Glocken der katholischen Kirche seit März 2017 am Wochenende nun eine Stunde später.
Zu laute Hähne beschäftigen die Gerichte ebenfalls immer wieder – nicht nur in Bayern. Im Landkreis Potsdam-Mittelmark verpflichtete ein Gericht 2016 einen Nebenerwerbsbauern, statt acht nur noch zwei Hähne zu halten. Außerdem darf sein gesamtes Federvieh – weil das Krähen und Gackern den Nachbarn stört – nur noch von 8 bis 20 Uhr ins Freie. Am Wochenende muss es zudem zwischen 13 und 15 Uhr in den Stall.
Beim Landesverband der Rassegeflügelzüchter Berlin und Brandenburg hieß es damals, solche Urteile seien keine Einzelfälle. Auch das dortige Landwirtschaftsministerium bestätigte: „Die Leute beschweren sich, dass ein Güllewagen riecht, ein Schwein grunzt oder ein Hund bellt.“
Auch in Bayern gibt es immer öfter Widerstand – und das keineswegs nur gegen die wachsende Zahl an Riesenställen. In einem ländlichen Viertel in Deggendorf muss sich gerade ein Bauer mit Hühnern gleich mehrerer Klagen erwehren. Manche Anwohner fürchteten aufgrund der Geräusche einen Wertverlust ihrer Anwesen.
Nicht immer sind die Beschwerdeführer Zugezogene – aber häufig. Denn seit Jahren zieht eine große Zahl meist wohlhabender Menschen aus anderen Teilen Deutschlands in das für seine schönen Wälder, Almen, Seen und Berge bekannte Alpenvorland. Manche Kinder von Einheimischen müssen dagegen wegen der explodierenden Grundstückspreise wegziehen. Und immer wieder gibt es auch Auseinandersetzungen über krähende Hähne und zu laute Kirchenglocken.
Umso höher schlagen die Gemüter dann gerne hoch. Denn so mancher Landbewohner, der seit Generationen in Bayern lebt, sieht in Kuh- und Kirchenglocken oder Hühnergackern einen wichtigen Bestandteil bayerischer Identität. Auch im Holzkirchner Glockenstreit ist dies zu spüren. Kuhhalterin Regina Killer hatte sich im Verlauf des Gerichtsstreits als Vorkämpferin des Brauchtums von den anwesenden Prozessbesuchern feiern lassen. So hatte die Bäuerin bereits bei einem Verhandlungstermin im Oktober klargestellt, dass ein Verzicht auf die Glocken keinesfalls infrage komme. Denn es gehe nicht nur um sie und ihre Glocken. „Wenn es so weitergeht, ist Bayern am Ende. Dann kommen auch keine Touristen mehr“, sagte die Landwirtin unter Beifall.
Peter Hartherz, der Anwalt des klagenden Hausbesitzers in Holzkirchen, fragte dagegen jüngst: „Warum brauchen Kühe denn unbedingt Glocken?“ Sein Mandant habe der Gegenseite vorgeschlagen, die Tiere mit GPS auszustatten. Schließlich sei neben der Heimatliebe und dem Tourismus das leichtere Finden der Tiere das Hauptargument der Glocken-Befürworter. In Österreich konnte so zuletzt ein Nachbarschaftsstreit über angeblich zu laute Kuhglocken am Ende gütlich beigelegt werden. Doch Bäuerin Killer wollte kein GPS. Hartherz hatte eine nicht sehr schmeichelhafte Erklärung für den aus Sicht seines Mandanten negativen Verlauf des Verfahrens: Dieser sei „möglicherweise der Bildungssituation der beteiligten bayerischen Landbevölkerung geschuldet“.
Für Glockenfan Urban ist dagegen klar: „Wenn ich keine Kühe in der Nähe haben will, brauche ich nicht aufs Land ziehen.“
(Tobias Lill)
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