Leben in Bayern

Rita Nagy aus Ungarn mit Puppe in Tracht. (Fotos: Pul)

16.06.2017

Damaskus liegt gleich ums Eck

Ohne Flugticket und Kofferpacken fremde Welten entdecken: Zugezogene mit ausländischen Wurzeln öffnen ihr Zuhause und erzählen von der früheren Heimat

„Weltreise durch Wohnzimmer“ heißt ein Projekt, das ursprünglich in nordrhein-westfälischen Rheda-Wiedenbrück entstand. Inzwischen findet es auch in immer mehr bayerischen Kommunen Nachahmer: Migranten laden Alteingesessene zu sich nach Hause ein, damit man sich besser kennen lernt. Die Staatszeitung hat an zwei Reisen teilgenommen: Nach Syrien und Ungarn. Rafida al Shamani und ihr Mann Mohamed Al Mjaber haben mächtig aufgetischt für das knappe Dutzend Besucher: Auberginenmus, Fladenbrot, Gemüsepastete und das als Nachtisch bei festlichen arabischen Mahlzeiten fast schon obligatorische Baklava. Dazu gibt es wahlweise schwarzen oder grünen Tee.

Das junge Ehepaar, sie ist 32 Jahre alt, ihr Mann sechs Jahre älter, kam 2015 aus der Nähe von Damaskus mit ihren drei Kindern im Alter von sieben, elf und 13 Jahren in die oberbayerische Kleinstadt Paffenhofen. Jetzt sind die beiden aufgeregt. Denn ihr Wohnzimmer ist voller Menschen. Obwohl sie schon relativ gut Deutsch spricht, sucht Rafida al Shamani anfangs immer wieder nach den richtigen Worten.

Die örtliche Volkshochschule und die Caritas organisieren den Kursus – Teil des Projektes „Weltreise durch Wohnzimmer“, bei dem auch immer mehr bayerische Kommunen mitmachen. Von den Teilnehmern viel gefragt: natürlich nach Essen und Trinken in Syrien, aber auch zu Fragen der Kindererziehung und Partnerschaft. Der Krieg in Syrien findet nur am Rande statt. Die seelischen Wunden schmerzen offenbar noch zu sehr, als dass Rafida und Mohamed darüber reden möchten.

Die Gäste japsen nach Luft: Das Gulasch hat es in sich

Die deutsche Sprache ist nach fast 30 Jahren für die Ungarin Rita Nagy längst kein Problem mehr. Aus der 53-Jährigen sprudelt es förmlich heraus. Sie erzählt von ihrem Heimatort, der kleinen Gemeinde Vállaj im äußersten Osten Ungarns, nur wenige Kilometer von der rumänischen Grenze entfernt; von ihrem Lehrer, der sie mit sanftem Nachdruck zur richtigen Berufswahl stupste („Ich wollte Verkäuferin werden, weil man da ganz gut verdiente früher in Ungar´n, aber er meinte, ich wäre die geborene Krankenschwester.“); von ihrem Lieblingsgetränk namens Traubi-Soda („herrlich süß, da schmeckt Spezi regelrecht bitter dagegen“) und natürlich von ihren beiden Enkelkindern – die Präsentation zahlreicher Fotos selbstverständlich inbegriffen.

Auch bei Rita Nagy gibt es landestypisch zu essen, natürlich Gulasch – und sie lacht herzhaft, als einige Gäste in ihrem Wohnzimmer nach dem ersten Bissen nach Luft schnappen. „Dabei habe ich es doch für Sie alle regelrecht mild gemacht!“, versichert sie. „Mein Mann meinte, so kann man es gar nicht essen, es müsse viel, viel schärfer sein.“

Während die Gäste versuchen – ob es was bringt, sei mal dahingestellt –,  mit zuckrigem Traubi-Soda den brennenden Gaumen zu kühlen, präsentiert Rita Nagy Puppen in landestypischer Tracht und warnt die Besucher vor einem Urlaub am Plattensee: „Viel zu laut und völlig überlaufen – längst eine Art ungarischer Ballermann“, sagt sie. „Fahren Sie mal lieber in den Norden, der ist touristisch noch weitgehend unberührt und viel günstiger.“

„Die Zahl der Interessenten übersteigt die der möglichen Teilnehmer bei Weitem“, verrät „Weltreise durch Wohnzimmer“-Mit-Organisatorin Theresa Stumpf von der Caritas. Aber zu viele Leute sollen es dann ja auch nicht werden – schließlich trifft man sich ja in einem Wohnzimmer und nicht in den üblichen Arbeitsräumen der Volkshochschule. „Gesprochen werden kann über alles, solange es den Gastgebern nicht zu intim ist – aber Politik und Religion nur mit Vorsicht, das sind halt sensible Themen“, gibt Theresa Stumpf zu bedenken.

Zehn Euro kostet je Teilnehmer ein einzelner, ungefähr zweistündiger Besuch – nicht wesentlich teurer als eine Kinokarte, und obendrein gibt es ja noch was zu essen. Als kleine Erinnerung erhalten anschließend alle Teilnehmer einen Reisepass mit einem Stempel des „bereisten Landes“ darin.

Kürzlich wurde das Projekt „Weltreise durch Wohnzimmer“ ausgezeichnet im von der Bundesregierung initiierten Wettbewerb „Deutschland – Land der Ideen“. Das Ganze sei „ein Beleg für lebendige Nachbarschaft in all ihren Facetten“, lobt der Jury-Vorsitzende Ulrich Grillo, Präsident des Bundesverbands der deutschen Industrie. Bei der von der gleichnamigen IT-Firma ausgelobten internationalen „Google Impact Challenge“ gehört die deutsche „Weltreise“ zu den Finalisten. Eine Foto-Wanderausstellung quer durch Deutschland ist in Vorbereitung.

Die Vorbereitung der Wohnzimmer-Reisen verläuft inzwischen allerdings fast schon konspirativ: „Die Gäste melden sich verbindlich an, zahlen den Teilnehmerbetrag – und erhalten erst dann von uns persönlich die jeweilige Adresse“, so die Organisatorin. Der Grund ist ein trauriger: Wenige Tage nach dem Treffen hatte Rafida al Shamani anonyme Post in ihrem Wohnzimmer – sie möge sich doch gefälligst wieder heim nach Syrien scheren, wenn es ihr dort so gut gefalle. Aber Idioten trifft man halt auf jeder Reise. (André Paul) Foto (Paul): Mohamed Al Mjaber (rechts) kam 2015 aus Syrien.

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