Leben in Bayern

"Zeit hat man nicht, Zeit ist man", sagt Karlheinz Geißler. "Darum kann man sie auch nicht sparen." (Foto: privat)

28.07.2017

Der Entdecker der Langsamkeit

Der Münchner Zeitforscher Karlheinz Geißler beobachtet seit 30 Jahren, wie Menschen durch ihr Leben hetzen – und zeigt, wie es anders geht

Weil er an Kinderlähmung litt, zog er früh sein Bein nach. Also strebte Karlheinz Geißler nach einer Lebensweise, die sich mit der eigenen Langsamkeit vertrug. Er forschte an der Bundeswehr-Uni über Zeit. Heute berät er Menschen darüber, wie sie Zeit zurückerobern können. Ein Tipp: Organisieren Sie den Alltag wie einen Emmentaler Käse, mit vielen Löchern, also unverplanten Zeiten. Eine halbe Stunde zu spät und entsprechend schuldbewusst taucht man vor dem Haus des Professors auf. Dessen Tür ist einladend angelehnt. Am Tisch sitzt ein entspannter Herr, freundlich und völlig vorwurfsfrei. Man hätte es ahnen können: Karlheinz Geißler, 72, Zeitforscher, ist ein Mann, der auf Pünktlichkeit pfeift. Verbindlichkeit sei ihm wichtig, sagt er. „Aber Pünktlichkeit?“ Er schüttelt den Kopf. „Gut, wenn man das eine vom anderen trennt.“

Geißler strahlt Gelassenheit aus. Ganz so, als hätte er erreicht, wovon andere noch träumen: „Zeitzufriedenheit“. Seit drei Jahrzehnten beobachtet und beschreibt er das allgemeine Gewusel um sich rum. Nachdenklich, nimmersatt und erkennbar vergnügt. Dass sich in Frühjahr und Herbst regelmäßig so viele, auch die CSU, über die Zeitumstellung ärgern zum Beispiel: für ihn ein Grund stiller Freude. Nicht, weil er selbst erbost wäre – er ist in dieser Frage erstaunlich leidenschaftslos. Auch nicht, weil er die Umstellung für ein gesundheitliches Problem hält. Sondern weil der Protest deutlich macht: Die Zeit der Uhr ist ein Takt von Willkür und Macht. Die eigentliche Zeit dagegen sei Rhythmus, Leben oder auch Honig, wie es in Geißlers neuestem Buch heißt (Time is honey. Vom klugen Umgang mit der Zeit). Er hat es zusammen mit seinem Sohn Jonas geschrieben.

Gemeinsam unterhalten die beiden ein Beratungsinstitut, an das sich wenden kann, wer mit seiner Zeit ins Reine kommen will. Kein einfaches Unterfangen. Denn immer hat der Umgang mit der eigenen Zeit auch mit den Zeiten zu tun, in denen man lebt. Der Roman Momo von Michael Ende entwarf schon 1973 eine Welt, in der Menschen unentwegt Zeit sparen – und dadurch immer weniger Zeit zur Verfügung haben.

„Zeit hat man nicht, Zeit ist man“, sagt Geißler dazu. „Darum kann man sie auch nicht sparen. Der Kapitalismus setzt auf Beschleunigung, er ist expansiv und imperialistisch. Daraus entstehen Probleme, ökologische und soziale.“ Noch viel schwieriger scheint alles geworden zu sein, seit Computer, Internet und Handys die Grenzen von Raum und Zeit auflösen, man von zu Hause aus arbeiten, nachts mit Kollegen in aller Welt telefonieren kann. Und seit vor lauter Flexibilität kaum einer weiß, wann die Arbeit beginnt und wann die Freizeit aufhört, was privat ist, was öffentlich und wie man am Ende des Tages eigentlich zur Ruhe kommt.

Geißler beobachtet Jogger und Walker, lauter Beschleunigte, nicht etwa Leute, die genüsslich schlendern und spazieren. Er sieht die elektronischen Geräte immer schneller werden. Und belächelt, wie trefflich man sich immer noch darüber ärgern kann, dass der Computer beim Hochfahren so lange braucht.

Die Zeit der Uhr als Takt von Willkür und Macht

Verbessert scheint sich die Situation nicht zu haben. Eines hat sich aber doch geändert seit Momo und den ersten Jahren von Geißlers Zeitnachdenken. Jeder weiß jetzt, dass Zeitdruck nicht gut tut. Die Chronobiologie, deren Thema die innere Uhr von Lebewesen ist, hat sich an vielen Hochschulen etabliert. Überall wird über Zeitmissstände geredet, in den Zeitungen, Magazinen und im Netz. Coachings verbessern das sogenannte Zeitmanagement, es geht um Zeitdruck, Zeitnot, Qualitätszeit und die ersehnte „Me-time“, die Zeit für sich selbst.

Dabei ist es auch Geißlers Verdienst, dass so viele heute Loblieder singen auf Faulheit und Muße, aufs Beinebaumelnlassen und Nichtstun. Allerdings geht es ihm gar nicht darum, die Welt zu „entschleunigen“, sondern um das, was er „lebendige Zeitvielfalt“ nennt. „Dazu gehört die Schnelligkeit genauso wie die Langsamkeit“, schreibt er in seinem Buch, „die Hektik ebenso wie das Trödeln, das unermüdliche Ranklotzen genauso wie die Pausen und die Zeiten der Erholung oder die Langeweile.“ Ausbalanciert aber ist diese Zeitvielfalt nicht. An Beschleunigung hat die Welt zu viel, an Langsamkeit zu wenig. Und „Zeitoasen“, jene Momente stillen Glücks, in denen die Zeit satt und träge dahinfließt, scheinen richtig rar geworden zu sein.

Das Thema Zeit flog Geißler nicht einfach zu. Kinderlähmung ließ ihn von früh an ein Bein nachziehen. Nicht nur war Geißler damit für immer verlangsamt. Er hatte auch die Fähigkeit verloren, unter Zeitdruck zu beschleunigen. Also suchte er nach einer Lebensweise, die sich mit der eigenen Langsamkeit vertrug. Er las, er lernte, er beobachtete, was ihn von den anderen unterschied. Er wurde zum Denker.
Als Professor für Wirtschaftspädagogik an der Münchner Bundeswehrhochschule beschäftigten ihn dann zwei sehr widersprüchliche Dimensionen von Zeit: Die Zeit der Wirtschaft, die bekanntlich Geld ist. Und die Zeit der Bildung, die großzügig und verschwenderisch ausgeschüttet werden muss über Schülern und Lehrern. 25 Jahre lang organisierte Geißler, der auch die „Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik“ mitgegründet hatte, an der Tutzinger Akademie unter dem Stichwort „Ökologie der Zeit“ interdisziplinäre Treffen. Da lernte dann schon mal ein Philosoph von einem Landwirt, wie viel Zeit Ackerböden brauchen, um sich zu regenerieren. Interdisziplinäres Denken und die Fähigkeit, die Dinge einfach und kompakt zu benennen, wenn einer danach fragt: Das macht bis heute seinen Erfolg aus.
Aktuell sein Tipp: den Alltag wie einen Emmentaler Käse zu organisieren, mit vielen Löchern, also unverplanten Zeiten darin.

Als er seiner Krankheit wegen mit 62 Jahren emeritiert wurde, habe er eine Weile gebraucht, einen neuen Rhythmus zu finden, sagt Geißler. Schließlich kenne das Leben eines Rentners zunächst weder Arbeit noch Urlaub, weder Arbeitstag noch Wochenende. Ein bisschen kokett ist das allerdings, denn natürlich arbeitet Geißler auch im Ruhestand weiter. So folgt der morgendlichen Zeitungslektüre eine straffe mehrstündige Arbeitsphase, unterbrochen von einer ausgiebigen Siesta, abermals gefolgt von Arbeit, beendet mit einem Abendessen. Zwischendrin trinkt der Zeitforscher zwar zu festgelegter Zeit seinen Espresso, den schnellsten aller Kaffees also. Aber: Er mahlt die Bohnen jedes Mal selbst. „Rituale stabilisieren das Leben. Nicht auszudenken, was geschähe, wenn jeder Tag völlig anders wäre!“, sagt Geißler.

Eine Forderung: Die Schule müsste viel später beginnen

Der Rituale wegen hegt er für manche Anliegen der bayerischen Politik denn auch durchaus Sympathie. „Ich schätze sehr, dass sich die Politik für die Sonntagsruhe einsetzt und für den Feierabend“, sagt er. Zeit hat für ihn viele Dimensionen zugleich, sie hat mit Natur, Kultur und Politik zu tun und damit, wie man sein Leben in der Gemeinschaft führen will. Darum ärgert es ihn bis heute, dass der Schulunterricht so früh beginnt. „Auf dem Land manchmal schon um 7 Uhr. Statt dass sich die Schule daran anpasst, wann das Lernen den Kindern am leichtesten fällt, nämlich später am Vormittag“, sagt er und betont: „Viel zu wenige hat die Schule auf die Ergebnisse der Zeitforschung reagiert!“

Auch in die „Zumutungen der Zeit- und Grenzenlosigkeit des Internets“ dürfe sich die Politik ruhig stärker einmischen, findet er. Und kürzlich, in Niederbayern, beim Besuch eines Bauernhofs, fiel ihm auf, dass er keine Vögel hörte auf den Feldern, weil die Hecken fehlten. Er sah auch keine Kuh auf der Wiese. „Die hochindustrialisierte Landwirtschaft, der Verlust der bäuerlichen Strukturen machen mich richtig traurig!“, sagt er.

Seit einiger Zeit zwingt Geißler die Kinderlähmung, die ihn immer begleitet hat, das Haus im Rollstuhl zu verlassen. Unangenehm, ja. Aber auch eine Möglichkeit, neue Beobachtungen zu machen. Ausstellungen und Restaurants besucht er nun oft vom Keller her, mit dem Lastenaufzug. „Zusammen mit dem Blumenkohl werde ich in den ersten Stock gehievt“, sagt er mit einem Lachen. „Manchmal ist es auch ein Klavier.“ Warum allerdings überall so viele Stufen sein müssen, die Leute geradezu versessen zu sein scheinen auf Schwellen und Hürden: Das will ihm einfach nicht in den Kopf.
(Monika Goetsch)

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