Leben in Bayern

Sie haben das Lieder- und Spielebuch von Alexander Jansen und Julia Erche getestet und finden es toll: Benjamin und Johanna. (Foto: Pat Christ)

23.06.2017

Der große Schatz der Flüchtlingskinder

Die Würzburger Alexander Jansen und Julia Erche sammeln in Asylunterkünften Lieder und Spiele – jetzt ist daraus ein Buch entstanden

Mit Murmeln spielt man fast überall. Und auch Kinderlieder kennt man auf der ganzen Welt – egal ob in Deutschland, dem afrikanischen oder arabischen Raum. Die Würzburger Alexander Jansen und Julia Erche sammeln von Flüchtlingskindern ihre liebsten Spiele und Lieder. Denn sie sind überzeugt: Mit diesen Kulturschätzen lassen sich Brücken bauen zwischen den Menschen. Sechs ganz in weiß gekleidete Mädchen und ein Junge treten plötzlich hervor. Gestenreich tragen sie mehrere Strophen eines Liedes vor. Alexander Jansen, ehemaliger Dramaturg am Mainfranken Theater, versteht erst einmal kein Wort. Eine Übersetzerin erklärt, dass die Kinder davon singen, wie sie ohne ihre Eltern von Äthiopien über den Sudan durch die Wüste Libyens an die Mittelmeerküste und von dort in einem kleinen Boot nach Europa geflüchtet sind. Jansen ist beeindruckt. Und so berührt, dass er ein Projekt startet: Der Theatermann fing an, Kinderlieder von Flüchtlingen zu sammeln.

Ein paar Jahre ist es nun her, dass Jansen auf der Feier der äthiopisch-orthodoxen Christen hörte, wie die Kinder mit ihrem Gesang Gott dankten, dass er sie auf dieser äußerst gefahrvollen Reise beschützt hat. Als Melodie diente den Kleinen eine alte äthiopische Weise. Vor Kurzem ist nun das Praxisbuch Ich habe meine Musik mitgebracht im Münchner Bosco-Verlag erschienen. Das mit einer Musik-CD ausgestattete Werk ist vor allem für den Einsatz in Kitas und Grundschulen gedacht. Gemeinsam mit der Würzburger Musikerin und Musiktherapeutin Julia Erche hat er zwei Jahre lang nach Liedern, Spielen und Geschichten von Flüchtlingskindern gesucht. Eine Auswahl davon schaffte es in das 136 Seiten starke Buch, das auch eine CD enthält. Finger- und Rollenspiele, Begrüßungs-, Bewegungs- und Friedenslieder aus Afghanistan, dem Iran, Albanien, Gambia, Ghana, Eritrea, Russland und vielen anderen Ländern finden sich darin.

Jansen, der als Heilpädagoge seit über zwei Jahren in Einrichtungen für geflüchtete Kinder und Jugendliche arbeitet, besuchte bei seiner Recherche mit Erche unter anderen die Würzburger Gemeinschaftsunterkunft. Dort sahen sie, wie Kinder hinter hohen Zäunen und Stacheldraht „Himmel und Hölle“ spielten. Sie fragten die Kinder, was sie noch gerne spielen und singen. Unvergessen bleibt den beiden ein westafrikanischer Junge, der ein Liebeslied vortrug. Eine Freundin hatte es ihm aus einer Flüchtlingsunterkunft in Libyen via Handy geschickt.

Jansen und Erche entdeckten, welche Kulturschätze die Flüchtlingskinder mitgebracht hatten. Schätze, die Brücken schlagen können zwischen den Menschen – davon sind sie überzeugt. Und sie entdeckten auch, wie unterschiedslos auf der Welt Kinder sind. „Das zeigen gerade jene Spiele, die in fast jedem Land gespielt werden“, erklärt Erche. Murmeln gehört dazu. Es wird, mit leichten Abwandlungen, in Pakistan ebenso gern gespielt wie in Nigeria oder Syrien.

Manchen Kindern hat der Krieg die Fähigkeit
geraubt, selbstvergessen zu spielen

„Tap tap e chamir“ hingegen ist ein Berührungsspiel, an dem sich nur Kinder aus Afghanistan erfreuen. „Klopf, klopf auf den Teig“ lautet die deutsche Übersetzung. Ein Kind liegt dabei wie schlafend auf dem Bauch und hält sich die Hand vor die Augen. Bis auf eine Ausnahme beklopfen alle anderen das Kind am Boden sanft mit dem Spruch „Tap tap e chamir ...“ Am Ende gilt es zu erraten, wer bei dieser Runde nicht mitgeklopft hat.

Auch Kinderlieder aus afrikanischen und arabischen Ländern drehen sich um ganz ähnliche Themen wie deutsche. Von einem äthiopischen Mädchen erfuhren Jansen und Erche zum Beispiel, dass es das Aufwecklied „Frère Jacques“ unter dem Titel „Wendime Jakob“ auch auf Amharisch gibt. Das, was über die verschiedenen Kulturen hinweg verbindet, so Jansen, ist also wesentlich stärker als das, was vermeintlich fremd ist und trennt. Schlaf- und Wiegenlieder zum Beispiel kennt man auf der ganzen Welt. Während hierzulande „Schlaf, Kindlein, schlaf“, „Lalelu“ oder „Der Mond ist aufgegangen“ beliebt sind, schlafen Kinder im Libanon mit „Yalla Tnam Rima“ ein. „O mein Herr, hilf meinem Kind, dass es süßen Schlaf nun find’t“, lautet die erste Zeile dieses Liedes, das sanft mit dem Tamburin begleitet werden kann.

Bei ihren Recherchen stießen Alexander Jansen und Julia Erche aber auch auf die verheerenden Spuren von Krieg, Krisen und Repressalien in der Welt. „Da gab es junge Menschen, die trotz Hilfe von Übersetzern nicht genau wussten, was wir mit ‚Spiel’ meinten“, erzählt Jansen. Der Krieg hatte diesen Kindern und Jugendlichen jede Möglichkeit geraubt, sich selbstvergessen dem Spiel zu widmen. Und ihnen damit auch ein Stück Kultur genommen.

Bedrückend war auch so manches Gespräch mit Flüchtlingsfrauen. Die beiden Liedersammler trafen Mütter aus dem Einflussgebiet islamistischer Terrorgruppen, denen kein Lied mehr einfiel, weil dort, wo sie lebten, nichtreligiöse Musik verboten war. Gerade in Afghanistan unterbinden Extremisten das Musizieren. Wer sich nicht an das Verbot hält, muss mit körperlicher Gewalt bis hin zur Ermordung rechnen. Selbst Schlummerlieder für Kinder sind bei den Taliban verpönt.

Oft hatten die Sammler aber auch Glück. Und dann wurde in jedem einzelnen Fall überprüft, ob das, was die Kinder in den Einrichtungen vorgesungen oder vorgespielt haben, tatsächlich so in ihrem Heimatland existiert. Ethnologisch geschulte Ehrenamtliche unterstützten Jansen und Erche bei ihren Recherchen.

Die Sesamstraße gibt es auch auf Arabisch
– auf der CD kann man sie anhören

In Noten zu fassen, was die Würzburger Flüchtlingskinder vorsangen, stellte Julia Erche allerdings oft vor große Herausforderungen. In vielen Fällen existieren keine Notationen der Lieder. Rhythmik und Melodie klingen außerdem für unsere Ohren äußerst oft ungewohnt. Bei ihrer musikalischen Bearbeitung musste Erche also das Kunststück vollbringen, den Originalklang des Kinderlieds zu wahren und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass Erzieherinnen in Kindergärten das Lied problemlos mit der Gitarre begleiten können. Genauso anspruchsvoll war es für Alexander Jansen, die Kinderlieder mithilfe von Muttersprachlern so zu übersetzen, dass deren landestypische Poesie und Bildkraft bewahrt bleiben. „Es können selbstredend keine wörtlichen Übersetzungen sein“, betont Jansen. In jedem einzelnen Fall musste er die Möglichkeiten zwischen Nähe zum Original und Machbarkeit in Bezug auf die Menschen, die mit Kindern arbeiten, sorgsam ausloten. Die jeweils erste Strophe aber kann auch in der originalen Sprache gesungen werden.

Das Projekt war anstrengend, aber auch ungemein bereichernd, sagt Julia Erche: „Ich brauche jetzt nicht mehr auf Weltreise zu gehen.“ Denn durch das Lieder- und Spielesammeln sei sie mit vielen interessanten Menschen in Kontakt gekommen. So lernte Erche durch das Lied „Iftah Ya Simsim“, mit dem die arabische Sesamstraße eröffnet wird, zum Beispiel jene Frau kennen, die in Abu Dhabi für die Sesamstraße verantwortlich ist. Die gab Erche schließlich die Erlaubnis, „Iftah Ya Simsim“ in die Begleit-CD aufzunehmen. (Pat Christ)

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