Leben in Bayern

Setzen sich kritisch mit der sozialen Arbeit in Würzburg auseinander (von links): Tony Julien, Anna Weß und Valeriy Khomenko. (Foto: Pat Christ)

05.01.2018

Ein Lobby für Sozialarbeiter

In Würzburg gibt es seit Kurzem den Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit – das Ziel: Herausfinden, wie man sich besser um Menschen kümmern kann

Darf ein Mensch mit Inkontinenz fünf oder sechs Windeln am Tag verbrauchen? Absurde Frage? Er erhält halt genau so viele, wie er braucht, denkt der Laie. Aber er denkt falsch. „Je nach Pflegegrad kann es sein, dass nur vier oder fünf Windeln zugestanden werden“, erklärt Tony Julien, Heilerziehungspfleger aus Würzburg. Und er ist überzeugt: Solche Vorgaben verstoßen gegen die Menschenwürde.

Der 24-jährige Julien ist Mitglied des Würzburger „Arbeitskreises Kritische Soziale Arbeit“ (AKS), den es seit Juni 2017 gibt. Nach München ist er die zweite AKS-Gruppe in Bayern gibt. Deutschlandweit gibt es etwa 25 solcher Arbeitsgemeinschaften, in denen Studierende der Sozialen Arbeit, Lehrende und Menschen aus der Praxis über Probleme rund um die Sozialarbeit diskutieren. Es geht darum, die Arbeitsbedingungen der Sozialarbeit kritisch zu reflektieren, aber auch um die Frage, wie man als Sozialarbeiter gegen die wachsende gesellschaftliche Ungleichheit ankommen könnte. Dabei werden auch Alternativen zum herrschenden System diskutiert. In Augsburg gründete sich vor einem Jahr dazu etwa die Initiative „Augsburg – Solidarische Stadt der Zuflucht“. Die Idee dahinter: Alle sollen sich frei und ohne Angst in der Stadt bewegen dürfen. Abschiebungen und illegale Menschen gibt es nicht. 17 Städte aus Deutschland und der Schweiz haben sich inzwischen zu dem überregionalen Netzwerk „Solidarische Stadt“ zusammengeschlossen.

Dass sich Sozialarbeiter mit kritischen Fragen zu ihrem Beruf und zur Gesellschaft beschäftigen, ist heute alles andere als selbstverständlich, sagt Anna Weß, Masterstudentin im vierten Semester und Initiatorin des AKS Würzburg. Sozialarbeiter und Sozialpädagogen seien meist vollauf damit beschäftigt, ihren Aufgaben am jeweiligen Arbeitsplatz nachzukommen – in der Schule, Drogenberatungsstelle oder im Behindertenheim. „Doch wir haben auch ein politisches Mandat“, betont die 25-Jährige. Früher sei das selbstverständlich gewesen, in den letzten Jahren allerdings geriet der politische Auftrag immer stärker in Vergessenheit, sagt Weß.

Für Heilerziehungspfleger Tony Julien bedeutet dieses politische Mandat auch, darauf aufmerksam zu machen, wie fragwürdig die Tendenz ist, Klienten in Zahlen zu fassen. Allein, dass es einen Pflegegrad gibt, findet der junge Mann nicht gut. Denn was pflegerisch mit einem betagten, kranken oder behinderten Menschen getan wird, orientiere sich dadurch nicht immer an dessen konkreten Bedürfnissen, so Julien. Auch einige seiner Kollegen stoßen sich daran, sagt Julien. „Doch viele haben resigniert.“

„Zu viele der Kollegen haben bereits resigniert“

Wie sich Sozialarbeit konkret gestaltet, bekommen auch Studierende schon früh mit. Im fünften Semester verlassen sie die Hörsäle und Seminarräume, um in einer Einrichtung für ein halbes Jahr in die praktische Arbeit hineinzuschnuppern. Anna Weß tat dies in der Psychiatrie. Bald ging ihr auf, dass es Sozialarbeiter dort oft alles andere als leicht haben. Sie arbeiten mit Berufsgruppen zusammen, die in der ungeschriebenen Hierarchie über ihnen stehen und dadurch deutlich größeren Einfluss und mehr Macht haben. Ärzte zum Beispiel: „Sozialarbeiter laufen oft drei Meter hinter dem Psychologen her“, so Weß.

Wie setzt man sich in multiprofessionellen Teams als Sozialarbeiterin durch? Das fragte sich die junge Frau während ihres Praktikums. Etwa, wenn ein aufgrund einer Depression stationär behandelter Patient entlassen werden soll, der nach Einschätzung der Sozialarbeiterin noch gar nicht fähig ist, zu Hause klarzukommen. „Vermutlich wird er daheim zum Beispiel seine Post nicht regelmäßig öffnen“, erläutert Weß. „Es wäre gut, nach dem Studium eine Anlaufstelle zu haben, wo man mit Kollegen solche konflikthaften Fragen besprechen kann“, sagt sie.

Genau zu einer solchen Plattform soll sich der AKS Würzburg mausern. AKS-Mitglied Olivia Sprengel befindet sich aktuell im Praxissemester. Auch sie sammelt Erfahrungen in der Psychiatrie. Dabei sieht auch sie, dass keineswegs alles rund und zum Wohle der Erkrankten läuft. „Es kann vorkommen, dass ein fixierter Patient, der klingelt, weil er zur Toilette muss, ziemlich lange warten muss, bis endlich jemand kommt und ihn zur Toilette begleitet“, erzählt sie. Außerdem bekam die 26-Jährige mit, welcher Druck mitunter auf junge Flüchtlinge ausgeübt wird, um ihre Bleibeperspektive in Deutschland zu erhöhen: „Sie sollen unbedingt ihren Schulabschluss schaffen.“ Natürlich sei dieser Gedanke an sich sinnvoll. Doch den jungen Menschen, die oft traumatisiert sind, werde man dadurch nicht gerecht.

Wie schnell Beraterinnen und Berater ihre Klienten aus dem Blick verlieren können, hat AKS-Mitglied Valeriy Khomenko am eigenen Leib erlebt. Nach dem Abitur wusste er nicht genau, was er machen wollte. Er wandte sich ans Jobcenter mit der Hoffnung, dort Orientierungshilfe zu bekommen. Doch seine Beraterin sei auf seinen Wunsch, gemeinsam eine Zukunftsperspektive zu entwickeln, gar nicht eingegangen. Sie habe einfach nur versucht, ihn so schnell wie möglich in die Arbeitswelt zu integrieren. „Ich landete für drei Monate bei einer Zeitarbeitsfirma, was mir bei meiner beruflichen Suche überhaupt nichts gebracht hat“, so der junge Mann, der gerade sein neuntes Semester in Sozialarbeit absolviert. Als sich Khomenko schließlich entschied, Soziale Arbeit zu studieren, nahm er sich fest vor, später einmal nicht über die Anliegen seiner Klienten einfach hinwegzugehen. „Ich möchte niemanden irgendwo hineinpressen, wo er nicht hingehört“, betont er.

„Warum steht ein Arzt über dem Sozialarbeiter?“

Acht junge Menschen engagieren sich derzeit im Würzburger Arbeitskreis. Und er soll wachsen, um eine starke Lobby für die soziale Arbeit in Würzburg zu werden. Das Vorbild ist der „Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit“ in München. Der tritt inzwischen in der Öffentlichkeit stark auf. So machten die AKS-Mitglieder im November auf „die Aushöhlung“ der Asylsozialarbeit in Bayern durch die neue „Beratungs- und Integrationsrichtlinie“ (BIR) des bayerischen Sozialministeriums aufmerksam. War bislang ein Asylsozialberater für 150 Geflüchtete zuständig, gibt es seit Anfang dieses Jahres keine verbindliche Personalbemessung mehr. Sozialarbeit für Geflüchtete, so der AKS München, mutiere zur „Beihilfe zur Abschiebung“.

Bei der Menschenrechtswoche an der Würzburger Hochschule für angewandte Wissenschaften stellten sich die Würzburger AKS-Mitglieder Anfang Dezember erstmals öffentlich vor. Und hoffen nun, weitere Sozialarbeiter aus Würzburg zum Mitmachen motivieren zu können. Derzeit ist Tony Julien der einzige Praktiker im Arbeitskreis. (Pat Christ)

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche

Ist die geplante neue Kindergrundsicherung sinnvoll?

Unser Pro und Contra jede Woche neu
Diskutieren Sie mit!

Die Frage der Woche – Archiv
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2023

Nächster Erscheinungstermin:
29. November 2024

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 24.11.2023 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.