Leben in Bayern

Die Trauer nach einem Suizid ist kompliziert. Denn für Angehörige ist er immer auch ein Vertrauensbruch. (Foto: dpa)

16.02.2018

Eine fürchterliche Dunkelheit

45 Prozent aller Selbstmörder sind 60 Jahre oder älter – die Prävention ist eine große gesellschaftliche Aufgabe, steht aber noch am Anfang

Freunde sterben, Verwandte, der Partner. Die Leistungskraft schwindet. Auf den Körper ist kein Verlass. Krankheiten kommen. Die Vergesslichkeit wächst, häufig auch: die Einsamkeit. In einer Gesellschaft, die auf Leistung und Effizienz setzt, fühlen sich alte Menschen leicht wertlos. Was kann man tun für mehr Beistand in einer der schwierigsten Phasen des Lebens? Hans P. ist 86, als er beschließt, sich zu töten. Eine einfache Operation steht bevor. Aber Hans P. hat Schmerzen. Er fürchtet, nach dem Eingriff inkontinent zu sein. Überhaupt hat er in den letzten Jahren vieles verloren: Er sieht nicht mehr so gut. Das Spazierengehen fällt schwerer. Auch der Kopf arbeitet nicht immer, wie er soll.

Am Sonntag noch fährt Hans P. mit seiner Partnerin Riesenrad. Er sagt: Das tun wir wieder. Am Donnerstag feiern die beiden ihr neunjähriges Jubiläum. Hans P. verspricht eine Kreuzfahrt im Frühling. Am Freitagmorgen findet ihn die Polizei im Keller seines Hauses, tot. Dass sich Hochbetagte umbringen, ist nicht selten. Im Alter steigt der Anteil an Suiziden massiv an. Rund 45 Prozent aller Suizide begehen Menschen, die 60 Jahre alt sind oder älter. Unter sehr alten Menschen ist das Suizidrisiko besonders hoch. Vor allem Männer wählen Methoden, die brutal sind und zuverlässig.

Hans P. und Else S. haben in den Monaten vor seinem Tod viel übers Sterben gesprochen. Else S. musste ab und zu ins Krankenhaus. Vor jedem medizinischen Eingriff drückte sie ihrem Partner einen Abschiedsbrief in die Hand. „Wenn du stirbst, bin auch ich nicht mehr da“, sagte dann Hans P. Für seine Partnerin klang das romantisch. Als wollte er sagen: Ich liebe dich.

„Die Belastungen, die im Alter zu verarbeiten sind, sind sehr groß“, sagt Uwe Sperling, Gerontopsychologe an der Universitätsmedizin Mannheim und Experte des Nationalen Suizidpräventionsprogramms. Freunde sterben, Verwandte, der Partner. Die Leistungskraft schwindet. Man wird nicht mehr gebraucht. Auf den Körper ist kein Verlass. Krankheiten kommen. Die Vergesslichkeit wächst, häufig auch: die Einsamkeit. „Nicht alle schaffen es, damit konstruktiv umzugehen“, so Sperling.

In einer Gesellschaft, die auf Leistung und Effizienz setzt, fühlen sich alte Menschen leicht wertlos. Was man dem Verlust entgegensetzen kann, hat aber auch mit der Biografie zu tun: Wer heute alt ist, war im Zweiten Weltkrieg jung. Er wuchs im Hitlerdeutschland auf, als die Erziehung hart war und das Leben noch härter. Die Einweisung in ein Krankenhaus kann traumatische Erinnerungen wecken, erklärt Sperling. „Aber nie führt nur eine einzige Ursache, ein Anlass allein zum Suizid.“

Auch Hans P. hat in seiner Kindheit viel mitgemacht. Er war auf der Flucht. Litt unter Tuberkulose. War er traumatisiert? Else S. verfolgen solche Fragen. Sie spürt Wut. Fühlt sich hintergangen. Dann wieder versucht sie, ihren Partner zu verstehen. Wie einsam und verzweifelt er gewesen sein muss!

Die Trauer nach einem Suizid ist kompliziert. Sie dauert länger, quälende Bilder kreisen im Kopf. „Für die Angehörigen ist ein Suizid immer ein Vertrauensbruch“, sagt Elfie Loser von AGUS e.V., der Selbsthilfegruppe für Trauernde, die einen nahestehenden Menschen durch Suizid verloren haben.

Ein reifer, lebenssatter Mensch, der entscheidet, dass er genug hat: Aus der Distanz kann man das vielleicht hinnehmen. Oder als Freitod stilisieren. Nicht aber aus der Nähe.

Bei Jüngeren wird man hellhörig, wenn sie vom Tod sprechen. Bei Älteren nicht.

„Es macht eine Dunkelheit, eine fürchterliche Dunkelheit!“, sagt Ulrike B. Ihr Vater litt unter Depressionen. Nahm Medikamente und versuchte, seine Verzweiflung zu verbergen. „Er hatte dieses männliche Rollenbild, das dominante“, sagt die Tochter. Hinzu kam im Alter die Angst, an Alzheimer zu erkranken. Die Kontrolle zu verlieren: Das war für den Kampfsportler unerträglich. Als Halbwaise hatte er Jahre im Kinderheim verbracht. „Grausam war, was dort ablief“, sagt Ulrike B. Sie vermutet, die Sensibilität ihres Vaters hat hier ihre Wurzeln.

Ulrike B. ist Psychologin. Häufig hatte sie befürchtet, dass sich ihr Vater umbringen würde. Als es so weit war, erkannte sie die Vorzeichen trotzdem nicht. „Dabei war es wie aus dem Lehrbuch“, erinnert sie sich. In den Wochen vor seinem Tod bekam der 65-Jährige neue Medikamente – die falschen, wie sie findet. Die Nebenwirkungen waren heftig. Und doch schien auf einmal alles wieder hell und lebendiger zu werden. „Mein Vater hat es so dargestellt, als ob es ihm besonders gutgeht.“ Die Familie glaubte ihm gern. „Auf seinen Suizid waren wir nicht gefasst.“

Wer sich umbringen will, hält sein Vorhaben meist geheim. Hat er den Entschluss gefasst, wirkt er erleichtert. Seine Absicht ist nicht leicht zu erkennen. Hinzu kommt: Bei jüngeren Menschen wird man hellhörig, wenn sie vom Tod sprechen. Bei älteren nicht. Der Tod rückt ja ohnehin mehr und mehr ins Leben hinein.

Gut ist es dennoch, sagt Elfie Loser von AGUS in Bayreuth, jede Bemerkung ernst zu nehmen. Und nachzufragen, was hinter dem Lebensüberdruss steckt.

Hausärzte sind hier besonders herausgefordert. Denn häufig ist, so der Münchner Medizinethiker Ralf Jox, der Selbsttötungswunsch nicht Ausdruck dessen, was ein Mensch wirklich will. Sondern Symptom einer Depression. Und Depressionen kann man im Regelfall medizinisch behandeln –  in jedem Alter.

Hinter einem Sterbewunsch kann im Alter auch die Angst vor medizinischen Behandlungen stecken. Oder vor unerträglichem Leiden. Aufgabe des Arztes ist es, darüber aufzuklären, dass man jede medizinische Behandlung ablehnen kann, sagt Jox. Eine andere Furcht betrifft den Tod selbst. Auch hier können Ärzte beruhigen. Die Palliativmedizin hat Medikamente, die Schmerzen, Angst und Luftnot lindern. Sollte das Leiden dennoch unerträglich sein, können Mediziner einen Patienten in ein künstliches Koma versetzen, welches das Leben weder verlängert noch verkürzt, die sogenannte palliative Sedierung.

Dass belastende Symptome gelindert werden können, nimmt dem Lebensende durchaus seinen Schrecken. Dennoch ist der Wunsch zu sterben bei manchen Schwerstkranken übermächtig. In solchen Fällen, sagt der Ethiker Jox, kann ein Patient vom Arzt Suizidhilfe erbitten. Der darf dies zwar auf keinen Fall geschäftsmäßig anbieten. Aber in Einzelfällen steht ihm frei, auf Basis einer Gewissensentscheidung zu handeln.

Jox hatte 2015 mit Kollegen für eine Regelung zur Sterbehilfe plädiert, die den Ärzten strenge Auflagen macht und zugleich Rechtssicherheit schafft, statt sich auf das Gewissen zu berufen. Denn: „Das Gewissen ist keine Eintagsfliege.“ Schnell steht der Vorwurf der „Geschäftsmäßigkeit“ im Raum, wenn ein Arzt mehreren Patienten zur Verfügung stellt, was sein Gewissen verlangt. Die Abgeordneten im Bundestag entschieden anders. Jox hofft weiterhin auf ein Gesetz, das Ärzten klarer aufzeigt, was erlaubt und was verboten ist.

Hans P. hatte den Arzt nach Sterbehilfe gefragt, der ging aber nicht darauf ein

Hans P. hatte seinen Arzt tatsächlich ein paar Tage vor seinem Tod um Sterbehilfe gebeten. Der allerdings ging nicht weiter darauf ein. Wäre alles anders gekommen, wenn er bei seinem Patienten nachgefragt, ihn informiert und beruhigt hätte? Else S. denkt auch darüber nach seit jener Nacht im November. Überall stößt sie auf Vorzeichen: Vielsagende Bemerkungen. Die gedrückte Stimmung im Sommer. Sie hat auch der Haltung ihres Partners nachgespürt. „Er wollte immer die Kontrolle behalten“, sagt sie. Würde war ihm wichtig. Wie diskret er jedes Zeichen von Schwäche vor ihr verbarg! „Als Pflegefall in einem Heim landen“, sagt sie, „das hätte er unter keinen Umständen gewollt“.

Die Furcht, ein Pflegefall zu werden, wirft ihren Schatten aufs Alter – auch wenn viele Pflegeheime, wie der Gerontopsychologe Sperling sagt, durchaus besser sind als ihr Ruf. Damit sie ihren Schrecken verlieren, muss eine Menge getan werden. Alte Menschen brauchen kompetente, hervorragend ausgebildete und entsprechend bezahlte Pfleger, die genug Zeit haben, sich um jeden Einzelnen zu kümmern. Es geht um Beistand in einer der schwierigsten Phasen des Lebens. Um Achtung. Und um Sinn. Nicht unbedingt als etwas Großes, Allumfassendes, sagt Sperling. „Sondern um gerade so viel Sinn, dass es für den nächsten Tag zum Leben reicht. Denn auch ein hochaltriger Mensch hat Zukunft.“ Manchmal sei diese Zukunft kaum zu sehen – und doch da. Vielleicht identifiziere sich ein Mensch mit der nachfolgenden Generation. Vielleicht freue er sich aber auch einfach auf ein Glas Wein am Samstagnachmittag.

Sicher: Nicht allen ist das Trost genug. Niemand weiß, ob Hans P. durch Aufklärung, Zuwendung und kompetente Versorgung zu helfen gewesen wäre. Dennoch ist die Prävention von Suiziden alter Menschen eine große gesellschaftliche Aufgabe. „Und wir“, sagt Sperling, „stehen noch ganz am Anfang“. (Monika Goetsch)

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