Politik

Demo 2010 in Ingolstadt – eine Elterninitiative organisierte den Protest gegen das G8. Sie sind die treibende Kraft, sagt Klaus Hurrelmann. (Foto: dpa)

16.05.2014

"Bayern wird zum G9 zurückkehren"

Bildungsforscher Klaus Hurrelmann über Politikerverdrossenheit bei der Jugend, die Entfremdung von den Parteien und das leidige Thema G8

Eigentlich hat er gar nichts gegen das G8. Dennoch glaubt Soziologe Klaus Hurrelmann, einer der profiliertesten Bildungsexperten in Deutschland: Die bayerische Staatsregierung wird dem Druck von Schülern und Eltern nicht widerstehen. Der größte Fehler bei der Einführung: mangelnde Kommunikation. Interessant: Der Soziologe hält junge Leute durchaus für politisch interessiert. BSZ: Herr Hurrelmann, die Europawahl steht vor der Tür. Schon bei der Landtags- und Bundestagswahl ist die Wahlbeteiligung gesunken – vor allem bei den Jungwählern. Kommt es jetzt noch schlimmer?
Klaus Hurrelmann: Die Wahlbeteiligung wird immer weiter abnehmen. Nicht nur bei den Jungen. Denn ein solcher Trend bei Jugendlichen ist immer nur ein Vorreiter für eine Entwicklung, die kurze Zeit später auch in anderen Teilen der Bevölkerung zu beobachten ist. Einzig die Älteren über 60 empfinden es noch als Bürgerpflicht, zur Wahl zu gehen.

BSZ: Warum ist das so?
Hurrelmann: Junge Leute fragen sich: Was bringt es mir, wenn ich meine Stimme abgebe? Was kann ich damit verändern? Das sind ganz pragmatische Überlegungen und auch urdemokratische. Für sie unterscheiden sich die Parteien aber am Ende kaum noch. Außerdem ist eine Entfremdung eingetreten, die Themen der Parteien sind von den Jugendlichen selbst sehr weit weg.

BSZ: Ist die Jugend also tatsächlich politikverdrossen, wie es immer heißt?
Hurrelmann: Nein, sie sind Parteien-verdrossen und auch Politiker-verdrossen. Man darf aus der niedrigen Wahlbeteiligung nicht schließen, dass dahinter auch ein geringes politisches Interesse stünde. Politisches Engagement im Nahbereich gibt es durchaus – im sozialen Sektor etwa oder im Umfeld der Schule oder des Arbeitsplatzes. Auch über Foren und Netzwerke findet ein politischer Austausch statt. Dort haben sie das Gefühl, selbst Einfluss ausüben zu können. Das haben sie in der Wahlarena mit ihren starren Prozessen nicht.

BSZ: Welche Themen interessieren denn die Jugend von heute?
Hurrelmann: An erster Stelle stehen immer Umweltthemen wie Klima und Energie. Auch die Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit beschäftigen die jungen Leute. Ebenso internationale Spannungen, Ungleichheit. Armut und Kriege. Es sind also die ganz großen Themen, die auch etwas mit der eigenen Zukunft der jungen Menschen zu tun haben.

BSZ: Früher sind sie dafür auf die Straße gegangen. Warum heute nicht?
Hurrelmann: Sie sind zwar nicht unpolitisch, aber man kann auch nicht verleugnen, dass sie nun nicht gerade von politischem Interesse brennen. Auch weil sie eben bequeme Pragmatiker sind. Insgesamt herrscht bei ihnen das Gefühl vor, dass es ihnen ganz gut geht. Früher haben junge Menschen für freie Meinungsäußerung und gegen Unterdrückung gekämpft. Sie wollten nicht in die autoritären Strukturen der Eltern und Großeltern gepresst werden. Das müssen Jugendliche heute nicht mehr. Sie zu kritisieren, dass sie nicht die gleiche politische Aktivität und Erregtheit an den Tag legen wie die 68er-Generation, ist deshalb albern.

BSZ: Was aber könnten nun Parteien und Politiker tun, um die Jugend für sich zu gewinnen?
Hurrelmann: Junge Leute hätten dann wieder Interesse an der Parteienpolitik, wenn diese sehr klare Positionen vertreten würde und Unterschiede deutlich würden. Aber das ist völlig unrealistisch, so ist unsere politische Situation einfach nicht. Realisierbar wäre aber, dass sich die Parteien wieder daran erinnern, dass sie fast alle einmal eine soziale Bewegung waren – sei es in den Bereichen Umwelt, Arbeiterrechte oder Religion. Sie müssen wieder den Anschluss an breite Bürgerbewegungen herstellen. Und hier ließen sich die modernen Medien hervorragend einsetzten. Diskussionsraum anbieten, spontane Versammlungen organisieren, zu politischen Diskussionen einladen – all das würde den Jungen zeigen: Die Politik kommt aus den Hinterzimmern heraus.

"Es gibt keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass der Stress zugenommen hat"


BSZ: In Bayern gibt es gerade einen heftigen Streit um das achtjährige Gymnasium. Ist das denn kein Thema, das die Jugend interessiert?
Hurrelmann: Das ist ein sehr interessantes Beispiel. Denn es trifft genau den nervösen Punkt an dem Politikverständnis der Jungen. Der Beschluss, die Gymnasialzeit auf acht Jahre zu reduzieren, ist nie den jungen Leuten und deren Eltern kommuniziert worden. Es wurde beschlossen, und das war’s. Bei den jungen Leuten hat dies das Gefühl noch verstärkt, dass die Parteien doch nur das machen, was sie wollen. Sie empfinden sie als frei schwebende große Apparate, auf die sie überhaupt keinen Einfluss haben.

BSZ: Es geht also in erster Linie gar nicht um den großen Stress, den das G8 bei Schülern verursacht?
Hurrelmann: Sie würden auch nach 12 Jahren Abi machen, wenn es gut gemacht ist. Aber die Art und Weise, wie das zustande gekommen ist, stört sie. Dafür, dass Überforderung und Stress tatsächlich zugenommen haben, gibt es keine wissenschaftlichen Belege. Aber es lässt sich nicht verleugnen, dass die unvorbereitete plötzliche Verkürzung der Schulzeit zu einer Schockwelle in der Schülerschaft geführt hat. Bei vielen hat das zu Stressreaktionen geführt. Anspannungen haben etwas zu genommen, aber meist wohl bei denen, die vorher schon angespannt waren.

BSZ: Und jetzt? Sind Sie für eine Rückkehr zum G9? In anderen Ländern scheint das G8 doch auch zu funktionieren.
Hurrelmann: Und dort kommt kein Mensch auf die Idee, es in Frage zu stellen. Auch in den ostdeutschen Bundesländern nicht, wo das achtjährige Gymnasium nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt worden ist. Dort läuft es wunderbar. Die Ablehnung bei uns hat schlicht auch mit einer Tradition zu tun, die man beibehalten will. Rudert man jetzt aber zurück, besteht die große Gefahr, dass es einmal mehr schlecht vorbereitet und gemacht wird. Allerdings denke ich, dass Bayern wie die anderen westlichen Länder auch wieder zum G9 zurückkehren wird. Der Druck der Eltern ist hier viel zu groß. Es sollte mich sehr wundern, könnte die bayerische Staatsregierung dem widerstehen.

"Nach der vierten Klasse auszusieben, ist ein alter Hut"

BSZ: Es geht hier also um die Eltern und gar nicht um die Schüler?
Hurrelmann: Ganz eindeutig. Die Eltern möchten, dass ihre Kinder das Abitur machen. Und sie möchten, dass sie ein gutes Abitur machen.

BSZ: Und die Eltern möchten den Kindern auch den Übertritt aufs Gymnasium erleichtern?
Hurrelmann: Ja, sie sprechen beim Übertrittszeugnis vom „Grundschulabitur“. Objektiv ist das nicht richtig, aber diesen subjektiven Eindruck muss die Politik sehr ernst nehmen. Ich plädiere schon seit Jahrzehnten dafür, nach der Grundschule nur noch Schulen anzubieten, die alle Abschlüsse vorhalten, auch das Abitur. Nach der vierten Klasse auszusieben, ist ein alter Zopf. So früh eine Vorentscheidung zu treffen, ob ein Kind einmal einen höheren oder niedrigeren Schulabschluss schaffen wird oder nicht, ist einfach nicht sinnvoll.

BSZ: Aber gibt es später nicht ohnehin genug Möglichkeiten, doch noch das Abitur zu machen?
Hurrelmann: Ja, aber man schickt ein Kind schon viel zu früh in eine Erwartungsschlaufe. Wird es als nicht abiturfähig eingestuft, verhält es sich oft auch so. Im Übrigen auch die Lehrer. So kommt es zu sich selbsterfüllenden Prophezeiungen. Außerdem möchten Eltern, dass ihr Kind in einen Kurswagen steigt, der direkt zum Abitur fährt. Denn sie wissen, dass Umsteigen auf unübersichtlichen Bahnhöfen und an zugigen Bahnsteigen schiefgehen kann.
(Interview: Angelika Kahl) (Klaus Hurrelmann (70), Professor an der Hertie School of Governance, war 30 Jahre lang an der Uni Bielefeld, ehe er 2009 emeritiert wurde; Foto: dpa)

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