Politik

Das Denkmal für die Opfer des Oktoberfestattentats in München. Die Theaterperformance „Wir waren nie weg“ gibt an Originalschauplätzen erstaunliche Einblicke in die Kontinuität rechtsterroristischer Netzwerke. (Foto: loh)

31.07.2015

Beunruhigende Parallelen

Die Ermittlungspannen beim Nationalsozialistischen Untergrund und Oktoberfestattentat ähneln sich verdächtig

In Deutschland ist weniger über rechtsextreme Gewalttaten bekannt als bislang angenommen. Erst diese Woche stufte das Bundeskriminalamt fünfzehn weitere Tötungsdelikte aus den Neunzigerjahren als rechtsextreme Gewalttaten ein. Damit starben zusammen mit den zehn Opfern der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) bis 2011 insgesamt 75 Menschen durch rechtsextreme Gewalttäter. Doch nicht nur die Grünen im Bundestag vermuten, dass die wahre Zahl rechtsextremer Morde wesentlich höher liegt. Inzwischen fordern auch Abgeordnete der CDU, SPD und Linken einen zweiten NSU-Untersuchungsausschuss. Das Ziel: Die Arbeit des Verfassungsschutzes rund um das NSU-Trio genauer unter die Lupe nehmen. Wie viele offene Fragen es bis heute gibt, zeigt noch bis 2. August die dokumentarische Theaterperformance Wir waren nie weg des Münchner i-camps.

Regisseurin Christiane Mudra führt die Zuschauer dabei in der Landeshauptstadt zu verschiedenen Schauplätzen rechtsextremer Gewalt und zeigt bisher weitgehend unbekannte Zusammenhänge auf. So wohnte beispielsweise der mehrfach verurteilte Neonazi Martin Wiese bis 2003 just an der Straßenkreuzung, an der Theodorus Boulgarides 2005 von den NSU-Terroristen mit Kopfschüssen ermordet wurde. Für beide Personen ist interessanterweise der gleiche Ermittler zuständig. Im Verlauf des Stücks lässt Mudra Schauspieler aus Gebüschen springen, die Fragen zum mutmaßlichen NSU-Mitglied Beate Zschäpe stellen. So wurden zum Beispiel in dem Wohnwagen, in dem sich Zschäpes Kollegen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt 2011 umgebracht haben, Kinderspielzeug sowie kinderpornografisches Material gefunden. Untersucht wurde das bisher nicht. Andere Schauspieler lesen echte Vernehmungsprotokolle vor, in denen aus Nazis nachträglich einfach Junkies gemacht wurden.

Für das Schauspiel war Mudra, die sich selber als Grenzgängerin zwischen Kunst und Journalismus bezeichnet, zwei Jahre regelmäßig beim Münchner NSU-Prozess und in den NSU-Ausschüssen. So verwundert es nicht, wenn insbesondere der Mord an der Bereitschaftspolizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn im Jahr 2007 eine große Rolle einnimmt. Das Bundeskriminalamt hält die Beamtin für ein Zufallsopfer des NSU. Kiesewetter ist allerdings unweit einer Gaststätte der rechten Szene zur Schule gegangen, dessen Wirt der Schwager des als NSU-Helfer angeklagten Ralf Wohlleben war. Außerdem kam heraus, dass zwei Mitglieder der Bereitschaftspolizei Mitglieder des rassistischen Ku-Klux-Klan waren. Und kurz vor der Vernehmung beging ein Zeuge, der Informationen zum NSU und dem weiteren rechtsextremistischen Netzwerk Neoschutzstaffel (NSS) hatte, angeblich Selbstmord. Alles Zufall? Diese Darstellung weckt selbst beim früheren Obmann des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag Clemens Binninger (CDU) „große Zweifel“.

Straffreiheit für V-Leute

Deutlicher wird der Nebenklägervertreter im NSU-Prozess Yavuz Narin, der sich bei Mudras Performance unter die Zuschauer gemischt hat. Er kenne Passagen aus dem Stück. „Das war kein Theater, sondern die Wahrheit“, erklärt er. So seien von der Polizei als glaubwürdig eingeschätzte Zeugenaussagen zugunsten der Einzeltätertheorie einfach unter den Tisch gekehrt worden. Außerdem habe es nach dem Mord an Boulgarides ein „Neonazi-Sightseeing“ am Münchner Tatort gegeben. „Die Personen waren mit Wiese befreundet“, versichert er. „Nach der Befragung wurde aber ausgeschlossen, dass die Herren rechtsextrem sind.“ Er sei „entsetzt“, dass dieser Beamte nach wie vor der Sachbearbeiter des Falls ist.

Mudras Schauspieler sind mittlerweile an der Münchner Theresienwiese angekommen, wo bereits die Zeltgerippe für das Oktoberfest stehen. Vor genau 35 Jahren ereignete sich an dieser Stelle der schwerste Terroranschlag in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Wie zu Beginn der NSU-Mordserie wurden lange Verbindungen ins rechtsextremistische Milieu ausgeschlossen und der Täter Gundolf Köhler zu einem Einzeltäter gemacht. Erst durch den NSU und die kritische Öffentlichkeit habe sich die Generalbundesanwaltschaft genötigt gesehen, die Ermittlungen wieder aufzunehmen, meint der ebenfalls anwesende Anwalt der Geschädigten Werner Dietrich. Dabei hätten schon früher Zeugen ausgesagt, dass Köhler nicht alleine war. Ein Waffenexperte der Bundeswehr habe sogar von einer zweiten, fehlgezündeten Bombe berichtet. Der Skandal im Skandal: „Die Aussagen befanden sich weder in den Haupt-, noch in den Nebenakten“, betont Dietrich. Er sei sich sicher, dass die jetzt an die Bundesstaatsanwalt übermittelten bayerischen Unterlagen noch weitere brisante Details zutage fördern werden.

„Wir können durch Mudras Stück lernen, wie Dinge zusammenhängen, die nicht gesehen werden oder gesehen werden wollen“, betont der Journalist und Autor Ulrich Chaussy (Der blinde Fleck). Als Beispiel nennt er den abgetrennten Arm, der nach dem Oktoberfestanschlag Köhler zugeordnet wurde und just in dem Jahr „aus Platzgründen in der Asservatenkammer“ vernichtet wurde, als die DNA-Überprüfung gerichtsfest wurde. Zum Glück habe sich nach seinem Film eine Krankenschwester aus Hannover als Zeugin gemeldet, die nach dem Anschlag einen Mann mit fehlendem Arm behandelt habe, der nach der Operation spurlos verschwand.

Großen Reformbedarf sehen alle Beteiligten bei den Sicherheitsbehörden. Doch statt personeller Konsequenzen wegen des Versagens beim Erkennen des NSU bekomme der Verfassungsschutz jetzt sogar 260 neue Stellen, schimpft der Autor von Staatsaffäre NSU Hajo Funke. „Und das ohne einen Ansatz von Gegenkontrolle.“ Denn das Parlamentarische Kontrollgremium sei aufgrund seiner geringen Ressourcen „unfähig zur Kontrolle“. Mehr noch: Zukünftig sollen nach dem Willen von Innenminister Thomas de Maizière (CDU) Informanten des Verfassungsschutzes sogar straffrei ausgehen, wenn sie zu einer Freiheitsstrafe von unter einem Jahr verurteilt werden – egal ob wegen Zeigens des Hitler-Grußes, Sachbeschädigung oder Körperverletzung. Für die Opferanwälte ist die Straffreiheit von V-Leuten nichts anderes als ein „staatliches Strukturförderprogramm für Neonazis“. (David Lohmann)

Kommentare (1)

  1. UllaBritta am 01.08.2015
    Ich habe das Stück gesehen und war am vergangenen Freitag bei der nachfolgenden Podiumsdiskussion dabei. Ich kann nur sagen: "Hut ab vor dieser Regisseurin, ihrem Schauspiel-Team und ihren Mithelfern hinter den Kulissen. Derart viel Mut hat Hochachtung und Respekt verdient!! Zumal "Wir waren nie weg!" einmal mehr den großen Sinn großartiger Kunst zeigt: Meinungsbildung in vollendeter Form!
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