Politik

Arif Tasdelen fordert, dass sich auch die Parteien stärker Migranten öffnen müssen: „Ich hege große Sympathien für einen Migrantenquote.“ (Foto: BSZ)

22.07.2016

"Das Integrationsgesetz gehört in die Mülltonne"

Arif Tasdelen, Chef der neuen Enquete-Kommission Integration im Landtag, über seine Erwartungen an das Gremium, die Leitkultur und die aktuelle Lage in der Türkei

Er selbst ist mit acht Jahren aus der Türkei nach Nürnberg gekommen: Der SPD-Abgeordnete Arif Tasdelen. Er fordert, Integration nicht länger dem Zufall zu überlassen. Als Vorsitzender der Enquete-Kommission will er mit Abgeordneten und externen Experten herausfinden, welche Maßnahmen es dringend braucht. Ein Schaufenstergesetz helfe jedenfalls nicht, ist der 42-Jährige überzeugt.

BSZ: Herr Tasdelen, wie sehr, glauben Sie, wird die Axt-Attacke eines jungen Flüchtlings im Zug in der Nähe von Würzburg die Asyl- und Integrationsdebatte wieder anheizen?
Arif Tasdelen: Eine Debatte in der Öffentlichkeit wird sich nicht vermeiden lassen. Natürlich ist so ein schreckliches Ereignis immer auch ein Schlag ins Gesicht der Menschen, die sich für Integration einsetzen – sei es in der Mehrheitsgesellschaft oder auf der Seite der Migrantinnen und Migranten.

BSZ: Sie sind Vorsitzender der neuen Enquete-Kommission Integration, was erwarten Sie sich?
Tasdelen: Vor allem, dass wir endlich erfahren, wo wir in Sachen Integrationsleistung in Bayern tatsächlich stehen. Es gibt ja noch nicht einmal einen Integrationsbericht im Landtag. Neben einer Bestandsaufnahme brauchen wir aber vor allem zukunftsfähige Konzepte, damit wir endlich wegkommen von der Integration als Zufallsprodukt.

BSZ: Wie meinen Sie das?
Tasdelen: Ob Integration gelingt, entscheidet sich vor Ort. Dort, wo Bürgermeister anpacken und Integration zur Chefsache erklärt haben, läuft es gut. Wo das nicht der Fall ist und die Unterstützung durch Ehrenamtliche fehlt, sieht es anders aus. Wir dürfen Integration aber nicht länger dem Zufall überlassen. Deshalb wollen wir offen und mit wissenschaftlicher Begleitung die Frage klären, welche Integrationsmaßnahmen erfolgreich sind und welche Rahmenbedingungen wir brauchen.

"Wäre die CSU schlau, würde sie sich vom Begriff Leitkultur verabschieden"

BSZ: Die CSU hat bereits ein Integrationsgesetz erarbeitet, wie offen wird sie da sein?
Tasdelen: Natürlich gibt es Punkte, über die wir in der Kommission auch streiten werden. Ich habe aber den Eindruck, dass auch die CSU mittlerweile eingesehen hat, dass die Zukunft Bayerns von dem Gelingen der Integration abhängen wird. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir Konzepte erarbeiten werden, die bei allen Parteien Akzeptanz finden. Ich jedenfalls mache der CSU das Angebot, ohne Vorbehalte über jedes Thema zu diskutieren.

BSZ: Zum Beispiel?
Tasdelen: Zum Beispiel über Sanktionen für Integrationsverweigerer. Bisher versucht die CSU mit dieser Forderung vor allem, davon abzulenken, dass es immer noch zu wenige Angebote gibt. Bevor wir über Strafen sprechen, sollten wir also zunächst einmal klären, wie Integration in Zukunft anständig organisiert werden kann. Das Integrationsgesetz, das sowieso ein reines Schaufenstergesetz ist, muss bis dahin auf Eis gelegt werden.

BSZ: Der CSU-Mann Josef Zellmeier, Vize der Kommission, hat das bereits vehement abgelehnt.
Tasdelen: Ich halte das für töricht. Wir werden in der Enquete-Kommission unter anderem untersuchen, ob es so etwas wie eine Leitkultur überhaupt gibt und wie sie gegebenenfalls definiert ist. Die CSU hat diese Frage selbst in den Antrag zur Kommission eingebracht. Jemand, der offen zugibt, nicht zu wissen, was die Leitkultur ist und das wissenschaftlich klären lassen will, kann doch nicht vorher ein Gesetz verabschieden, das Menschen auf genau diese Leitkultur verpflichtet. Das ist in meinen Augen der Beweis, dass dieses Gesetz in die Mülltonne gehört.

BSZ: Die CSU-Mehrheit in der Kommission wird sich ja wohl kaum von dem Begriff der Leitkultur verabschieden.
Tasdelen: Wenn sie schlau wäre, würde sie das. Ich bin mir sicher, dass der Begriff einer näheren Prüfung durch Experten nicht standhält. Verfassungsrechtler sind sogar der Ansicht, dass die Leitkultur nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

"Für Verweigerer gibt es heute bereits Sanktionen"

BSZ: Lehnen Sie Sanktionen denn grundsätzlich ab?
Tasdelen: Nein, aber sie machen nur Sinn, wenn wir auch genügend Maßnahmen anbieten können. Im Übrigen kann jemand, der Maßnahmen zur Arbeitsmarktintegration wie einen Sprachkurs verweigert, bereits heute mit Leistungskürzungen sanktioniert werden. Das Integrationsgesetz aber vernachlässigt das Fördern, es ist eine Integrationskeule.

BSZ: Sie selbst sind mit acht Jahren aus der Türkei nach Nürnberg gekommen. Was war das Wichtigste für Ihre Integration?
Tasdelen: Bei uns in Franken heißt es auf die Frage, was denn der Unterschied zwischen einem Franken und einem Türken sei: „Der Türke spricht deutsch.“ Im Ernst: Der Schlüssel zur Integration sind Sprache und Begegnungen. Ich hatte das Glück, dass wir in unserem Stadtteil nur deutsche Nachbarn hatten, so habe ich immer mit deutschen Kindern gespielt.

BSZ: Mit welchen Gefühlen blicken Sie gerade in die Türkei?
Tasdelen: Ich mache mir große Sorgen, ich habe nicht nur Tanten und Onkel in der Türkei, auch mein ältester Bruder lebt in Istanbul. Aber ich habe immer noch die Hoffnung, dass der Putschversuch des Militärs, wie Außenminister Steinmeier gesagt hat, ein Weckruf für die Demokratie ist.

"Auch mein Bruder war in der Putschnacht in Istanbul auf der Straße"

BSZ: Wie das? Jetzt hat Erdogan sogar den Ausnahmezustand verhängt und kann so Grundrechte einschränken.
Tasdelen: Auch mein Bruder, der für die Sozialdemokraten für das türkische Parlament kandidiert hat, war in der Putschnacht auf der Straße. Und er ist erwiesenermaßen kein Freund von Erdogan und der AKP. Ihm ging es darum, dass seine Kinder die nächsten 20 Jahre nicht unter einer Militärdiktatur leben müssen. Ich hoffe, dass die türkische Regierung erkennt, dass die Mehrheit nicht für die Regierung auf die Straße gegangen ist, sondern für die Demokratie. Und ich bin davon überzeugt, dass diese Menschen es im Kreuz hätten, noch einmal auf die Straße zu gehen, sehen sie die Demokratie gefährdet. Meine große Hoffnung ist, dass Erdogan das schnell erkennt, verbal abrüstet, und weder Präsidialsystem noch Todesstrafe kommen.

BSZ: Es gibt aber doch in diesen Fragen einen tiefen Riss in der der türkischen Gesellschaft. Macht Ihnen das nicht Sorge auch mit Blick auf die türkische Community in Deutschland?
Tasdelen: Meine einzige Sorge ist, dass Menschen, die in Deutschland geboren sind oder bereits 30 oder 40 Jahre hier leben, die türkische Politik interessanter finden als die deutsche – und sich dort auch weit besser auskennen. Denn diese Menschen werden politisch immer Fremde bleiben.

BSZ: Wie ließe sich dem entgegenwirken?
Tasdelen: Die Parteien müssen sich Migranten stärker öffnen. Ich selbst hege große Sympathien für eine Migrantenquote. Für einen Neuen, der keinen Migrationshintergrund hat, ist es schon schwierig, sich in den Haifischbecken der großen Parteien zu behaupten. Aber, um in diesem Bild zu bleiben: Für denjenigen, der nicht richtig schwimmen kann, ist es besonders schwer.
(Interview: Angelika Kahl)

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