Politik

Nicht billig. Foto: BSZ

27.08.2010

Der Traum vom weißen Gold

Eine Ausstellung in Selb und Hohenberg zeigt die 300-jährige Geschichte der Porzellanmanufakturen

Ein Besuch im idyllischen Frankenwald kann derzeit ungewohnte Einsichten vermitteln: Porzellan ist ein Werkstoff, der wie kein anderer die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten drei Jahrhunderte reflektieren kann. Einst erfunden, um eine aristokratische und wohlhabende Oberschicht mit raffinierten Kunstwerken zu ergötzen, hat das „Weiße Gold“ längst den Weg in die Haushalte von Familie Normalverbraucher gefunden.
Bei genauerer Betrachtung ist Porzellan aus unserem Leben sogar nicht mehr wegzudenken: Natürlich in erster Linie in Haushalt und Küche – kein Essen ohne schöne Teller, keine Kaffeetafel ohne dekoratives Geschirr, kein Badezimmer ohne Wannen, Waschbecken oder Toilettenschüsseln. Aber auch Industrie und Pharmazie wissen diesen Werkstoff zu schätzen – als Isolator und zudem mit verschwindend geringer Reibungsabnutzung ist er vielfach verwendbar.
1708 konnten Johann Friedrich Böttger und Ehrenfried Walther von Tschirnhaus die Formel für das berühmte chinesische Porzellan entschlüsseln, und schon 1710 eröffnete die erste Manufaktur Europas in Meißen. Dies war der Beginn eines einzigartigen Siegeszuges.
Dass August der Starke einst 600 Soldaten für 151 chinesische Vasen „zahlte“, beweist die fanatische Begeisterung der Aristokratie für das weiße Gold. Über zwei Jahrhunderte hinweg hat die Porzellanherstellung die Region Selb geprägt und brachte dem eher strukturschwachen Landstrich Arbeit und Wohlstand.


250 Jahre ruhten die Schätze auf dem Grund der Meeres


Inzwischen ist die Produktion ins Ausland verlagert, die meisten Arbeitsplätze gibt es nicht mehr. Dennoch dreht sich immer noch viel rund ums Porzellan, um Design und Verkauf – und immer noch kommen 70 Prozent des in Europa produzierten Porzellans aus Fichtelgebirge und Oberpfalz. Zudem befindet sich hier das mit 11 000 Quadratmetern größte Porzellanmuseum Europas, verteilt auf zwei Standorte: Selb und das benachbarte Hohenberg an der Eger – die beiden Standorte der Traditionsmarken Hutschenreuther und Rosenthal.
An diesen beiden Orten haben renommierte Museumskuratoren auf insgesamt 3500 Quadratmetern eine Sonderausstellung der Extraklasse zusammengetragen. Über 1000 hochkarätige Exponate gibt es zu bestaunen – mit Einzelstücken, die in dieser Vielfalt wohl nicht so schnell wieder zu sehen sein werden, da weltweit namhafte Institutionen, aber auch individuelle Sammler seltene Stücke zur Verfügung gestellt haben.
Der Ausstellungsrundgang beginnt chronologisch gesehen in der früheren Hutschenreuther Direktorenvilla in Hohenberg. Dort befindet sich normalerweise das Deutsche Porzellanmuseum – für diese Sonderausstellung wurden allerdings alle Exponate ausgeräumt und mit den internationalen Leihgaben neu kombiniert. Seltenes, Schätze und Skurriles kann man dort betrachten.
Fast schon als Schatztaucher kann sich der Besucher fühlen, wenn er staunend vor den zarten und unendlich wertvollen Meissener Porzellanen steht, die vor rund 260 Jahren im finnischen Golf vom Meer verschlungen wurden. 1747 war das Handelsschiff St. Mikael von Amsterdam nach St. Petersburg unterwegs – der unter russischer Flagge segelnde Dreimaster sank und riss seine Fracht mit in die Tiefe. Vor zehn Jahren erst wurde es möglich, die Schätze der St. Mikael zu bergen: vier Kaffee- und Teeservice sowie zahlreiche Figurinen, die wohl für den Zarenhof in St. Petersburg bestimmt gewesen waren.
40 Meter unter dem Meeresspiegel hatten vor allem die niedrigen Wassertemperaturen der Baltischen See, aber auch der relativ geringe Salzgehalt dazu beigetragen, dass das Porzellan, fast wie in einer Zeitblase erhalten, unbeschädigt vor dem Betrachter steht.
Unglaublich selten sind auch die sogenannten Medici-Porzellane. Im Florenz der Renaissance ließ Francesco de Medici bis zu seinem Tod 1587 zu exorbitanten Kosten nach der Formel des weißen Goldes suchen.
Die Ergebnisse zählen allenfalls als Vorläufer des heutigen Hartporzellans, waren die Stücke doch oft zu weich und zeigten Brennrisse oder Glasurblasen. Trotzdem waren die Gefäße als Geschenke an internationale Diplomaten beliebt und unverkäuflich. Weltweit existieren nur noch 60 Stücke der Medici-Porzellane, von denen eine fratzengesichtige Grotesken-Vase zu sehen ist.
Wie es „bei Kaisers“ ganz privat zuging, kann man in Selb ebenfalls nachempfinden. Das österreichische Kaiserpaar Sisi und Franz Josef würden sich wahrscheinlich im Grab herumdrehen, wüssten sie, welche Exponate dort den neugierigen Augen der Besucher enthüllt werden. Als wahrer „Publikumsliebling“ erweist sich Elisabeths zierliches und reich ornamentiertes Bidet – mit dem Wappentier, dem Delfin verziert, ermöglichte es auch auf den zahlreichen kaiserlichen Jagdausflügen persönliche Hygiene und Frische.
Lange auf dem Speicher eines Antiquitätensammlers vergessen, wird dem ungewöhnlichen Stück jetzt im Museum die verdiente Aufmerksamkeit zuteil. Doch nicht nur der Blick in die Vergangenheit zeigt Faszination und Vielfalt des Werkstoffs.
Längst ist Porzellan in der modernen Welt der Massengesellschaft angekommen. Unter dem Motto „Utopien des Alltags“ zeigt ein weiterer Ausstellungsteil sehr individuelle, oft auch dysfunktionale Gestaltungen von zehn zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern, darunter Tobias Rehberger und Joep van Lieshout, aber auch Designer wie Franck Bragigand oder Wieki Somers.
Diese Porzellan-“Utopien“ werden ergänzt durch Leihgaben weiterer 55 Künstler und Designer, wobei das integrierte Projekt „300+X“ hier besondere Aufmerksamkeit verdient, katapultiert es doch den Betrachter von der Gegenwart in die Zukunft.


Porzellan als Werkstoff
für jedermann


Nahezu alle europäischen Kunst- und Designhochschulen stellen hier ihre originellsten Arbeiten im Bereich des Porzellandesigns vor. Viele dieser studentischen Projekte wurden bereits national und international ausgezeichnet – zu Recht.
Ob als Schale mit Häkeloptik, als skurril-organischer Schmuck oder als Männchen, die einem japanischen Manga-Comic entsprungen zu sein scheinen: Selten sieht man einen derart frechen und kreativen Umgang mit zukunftsweisenden Funktionsmöglichkeiten des Porzellans. Die ambitionierte Ausstellung erweist sich gerade jetzt in den Ferien als ideales Ausflugsziel: Ein ausgefeiltes und umfangsreiches museumspädagogisches Begleitprogramm stellt sicher, dass auch kleinste Museumsbesucher, Schüler, aber auch ältere Besuchergruppen nach ihren Bedürfnissen und Interessen in die Ausstellung eingeführt werden.
Sonderveranstaltungen um den Themenbereich runden das Angebot ab. So verkörpert auch die begleitende Besucherbetreuung den Anspruch der Ausstellung, Porzellan als Werkstoff für jedermann vorzustellen. Eine äußerst sehenswerte Ausstellung, die den Weg in den Frankenwald auf jeden Fall lohnt! <//em>

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