Politik

Simone Fleischmann ist seit Mai 2015 Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands mit 59 000 Mitgliedern. (Foto: dpa)

23.09.2016

"Die Lehrerbildung wurde an die Wand gefahren"

Präsidentin Simone Fleischmann vom Bayerischen Lehrerverband BLLV über Integration, Islamunterricht, Gemeinschaftsschulen und Sexualkundeunterricht an Grundschulen

Bei der schulischen Integration von Flüchtlingskindern habe Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) alles richtig gemacht, meint BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann. Das war’s aber mit dem Lob: In Bayern mangele es an Lehrern, Schulpsychologen, einer intelligenten Notengebung und echter Inklusion von behinderten Schülern. BSZ: Frau Fleischmann, das Schuljahr hat kaum begonnen, da kommt vom BLLV schon Kritik. Die mobile Lehrerreserve sei bereits aufgebraucht. Klingt nach keinem guten Start.
Simone Fleischmann: Mir tut es leid, dass es wieder so losgehen muss. Aber in den einzelnen Kreisen und Bezirken sind schon jetzt Lehrer in der vollen Verpflichtung für langzeiterkrankte oder schwangere Lehrkräfte – das müssen wir anmahnen. Bei weiteren Krankheitsfällen müssen Kinder nach Hause geschickt werden. Es darf nicht sein, dass die Unterrichtsversorgung jedes Jahr mangelhaft ist.

BSZ: An Grund-, Mittel- und Förderschulen wurden dieses Jahr alle Bewerber eingestellt. Das ist doch ein Grund zur Freude, oder?
Fleischmann: Der Minister verwendet gerne das Bild, wie er jeden einzelnen Lehrer mit Blasmusik am Bahnhof abholt – das zeigt die Brisanz des Themas. Das Problem: In diesem Zug sitzt kein Lehrer. Bayern ist ein reiner Verschiebebahnhof. Unsere Conclusio: Die Lehrerbildung wurde an die Wand gefahren.

BSZ: „Hure“, „Spasti“, „Asylant“: Sie kritisierten kürzlich, auf Schulhöfen herrsche wegen Rechtspopulisten und Rechtsextremen eine „Sprache des Hasses“. Was können Schulen dagegen unternehmen?
Fleischmann: Alle sollten achtsam mit ihren Worten umgehen. Wenn jemand „scheiß Ausländer“ ruft, müssen Lehrer eingreifen, sonst gehen Worte ganz schnell in Taten über. Es ist gut, wenn Jugendliche ihre Grenzen überschreiten. Aber durch die Flüchtlingskrise ist es zu einer Diskussionskultur gekommen, die mich erschreckt hat und die ich in dieser Art noch nicht erlebt habe. Das macht uns Sorgen für zukünftige demokratische Prozesse.

BSZ: Wie funktioniert das gemeinsame Lernen mit Flüchtlingskindern?
Fleischmann: In Bayern hat man genau richtig agiert, Geld zur Verfügung gestellt, Übergangsklassen ausgeweitet und unterschiedliche Modelle implementiert – auch an weiterführenden Schulen. Hätten wir aber mehr Lehrer, hätte auch das Geld konsequenter ausgegeben werden können. Man hat alles daran gesetzt, dass Integration funktioniert, aber uns Lehrern fehlt die Kompetenz. Gerade die interkulturellen Begegnungen sind eine Herausforderung.

BSZ: Manche muslimische Eltern würden ihre Tochter gern vom Schwimmunterricht ausschließen. Wie funktioniert die Integration an den Schulen vor Ort?
Fleischmann: Selbstverständlich gibt es Schulen, wo solche Probleme auftauchen. Doch die Lösung liegt auf der Hand: das Gespräch suchen und sich die Zeit nehmen, das mit den Kindern zu thematisieren. Und nicht zu sagen: Mei, das sind halt die Ausländer. Thematisieren statt tabuisieren. Kinder stellen die Fragen, die wir lieber unter den Teppich kehren würden. Das ist aber die Chance, die Gesellschaft von morgen zu erziehen.

BSZ: Weniger als 25 000 der geschätzten 150 000 Schüler muslimischen Glaubens erhalten in Bayern Islamunterricht. Reicht das?
Fleischmann: Wir führen ständig Gespräche mit dem Kultusministerium. Die von Minister Spaenle angekündigten 400 Modellschulen sind genau der richtige Weg. Die vielen unterschiedlichen islamischen Ansätze machen es schwer, alles in einen Lehrplan zu gießen. In Bayern wird sehr behutsam vorgegangen – das ist sehr zu begrüßen. Ich habe zu dem Thema viele Anfeindungen im Internet bekommen. Das zeigt: Man muss bei dem Thema behutsam vorgehen.

BSZ: Fast jedes zweite Flüchtlingskind leidet aufgrund von Krieg und Flucht unter psychischen Erkrankungen. Fühlen sich Ihre Mitglieder dem gewachsen?

Fleischmann: Bei traumatisierten Kindern befinden wir uns in einer Schachmatt-Situation. Wir wollen unser Bestes geben und bieten auch Seminare zu dem Thema an. Trotzdem besteht die Gefahr, dass einige Kolleginnen und Kollegen es nicht packen. Manche Kinder bekommen Panik, wenn die Klassenzimmertür geschlossen wird oder der Feueralarm losgeht. Da sind wir nicht trainiert. Kollegen in den Übergangs- und gemischten Regelklassen sind echt gefordert. BSZ: Berichte über Terror und Gewalt lösen auch bei in Deutschland geborenen Kindern Ängste aus. Aus dem Kultusministerium aber heißt es: „Eine Schule ist kein Ort für Therapien.“
Fleischmann: Jede Lehrerin und jeder Lehrer hat einen Erziehungsauftrag. Schulen sind zwar keine Reparaturstätten, aber wir wollen helfen und begleiten. Wenn ein Schüler auffällt, muss mit den Eltern, den Kollegen oder der Schulleitung gesprochen werden. Damit Lehrer aufgrund der Vielfalt der Bedarfe nicht mehr so oft an ihre Grenzen kommen, hat der BLLV ein Konzept für die Landtagswahl erstellt: Wir brauchen multiprofessionelles Expertenpersonal an den Schulen, das die Bedarfe mit den Kindern, Lehrern und Eltern klärt.

BSZ: Eine Therapie bräuchten manche Kinder und Eltern auch nach dem Stress wegen des Übertrittszeugnisses für die weiterführende Schule.
Fleischmann: Das ist der Knackpunkt der Bildungspolitik in Bayern: Kinder werden mit zehn Jahren anhand von drei Noten in Schubladen sortiert. Solange sie auf diese selektive Weise die Grundschule beenden, werden wir Kindern nicht den Stress nehmen. Wir sprechen uns daher für ein längeres gemeinsames Lernen aus, das durchaus zehn Jahre gehen kann.

BSZ: Jedes Schuljahr bleiben in Bayern 50 000 Kinder sitzen. Sollten Noten ganz abgeschafft werden?
Fleischmann: Minister Spaenle hat einen anderen Begabungsbegriff als wir. Für ihn bestimmt die Intelligenz die Schulart, welche sich mit Hilfe von Noten messen lässt. Dieses Denken stammt aus der Zeit der Drei-Stände-Ordnung des Mittelalters. Davon sind wir inzwischen weit entfernt. Noten haben nicht immer etwas mit Intelligenz zu tun. Es ist ein Unterschied, ob ein Kind aus einem sozial starken oder sozial schwachen Elternhaus eine Zwei mit nach Hause bringt. Außerdem ist die Notenzuweisung alles andere als objektiv. Das Festhalten an der Dreigliedrigkeit wird im bayerischen Schulsystem jede Chance auf Entwicklung verhindern. BSZ: Ist vor lauter Integration die Inklusion ins Hintertreffen geraten?
Fleischmann: Ja. In den Schulen passiert oft, wovor wir Angst haben: dass die einen gegen die anderen ausgespielt werden und ein Konkurrenzkampf beginnt. In letzter Zeit wurden Maßnahmen ergriffen, die uns auf den Weg gebracht haben, aber es gibt in Bayern noch keine echte Inklusion. Alle reißen sich die Haxen auf, aber behinderte Kinder haben noch nicht die gleiche Chance wie nicht behinderte Kinder.

BSZ: Der Sexualkundelehrplan ist reformiert worden. Manche Eltern protestieren deshalb gegen die „Frühsexualisierung“ ihrer Kinder.

Fleischmann: Ich bin definitiv der Meinung, dass Schulen Sexualerziehung aufgreifen müssen – auch in der Grundschule. Vorher gibt es grundsätzlich immer einen Elternabend. Das Beste an den neuen Richtlinien in Bayern ist, dass es sie überhaupt gibt. Allerdings wird darin die gesellschaftliche Realität nicht abgebildet. Es gibt nun mal eine Reihe von Patchworkkindern oder Kindern aus gleichgeschlechtlichen Elternhäusern.

BSZ: Großen Zuspruch erhalten Sie für die Forderung nach mehr Mundartunterricht. Funktioniert das auch mit Kindern mit Migrationshintergrund?

Fleischmann: In einer Klasse mit Flüchtlingen werden Lehrer natürlich keine bayerischen Mundart-Gedichte aufsagen lassen. Brauchtum ist aber im Lehrplan verankert. Da kann man doch die Frage stellen, warum zwei Wochen lang Menschen mit Dirndl und Lederhose auf so ein Wahnsinnsfest in München rennen. Die Gesellschaft in Bayern wird von bestimmten Werten bestimmt. Dabei spreche ich nicht von der Leitkultur, sondern von Mundart, Brauchtum und Gepflogenheiten. Das ist spannend für unsere Kinder und die, die geflüchtet sind.

BSZ: Können Sie überhaupt richtig Bairisch?

Fleischmann: Ich kann Bairisch reden und habe das während meiner Zeit als Lehrerin auch oft gemacht – zum Beispiel bei Liedern aus dem bayerischen Kulturkreis. Wenn manche Kinder mich nicht verstanden haben, habe ich zu den anderen gesagt: Übersetzt’s ihnen. Das führte mitunter zu mahnenden Fingern der Schulräte. Den Satz des Pythagoras in Mathematik würde ich jetzt aber auch nicht auf Bairisch erklären. (Interview: David Lohmann)

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