Politik

Der Mediendozent und Filmrechtehändler Vural Ünlü (43) ist seit 2009 Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Bayern.

27.05.2016

"Die liberale Mitte in der Türkei schmilzt weg"

Der Vorsitzende der türkischen Gemeinde in Bayern, Vural Ünlü, über die Entwicklungen in der Türkei, Integrationsprobleme in Bayern und die Causa Böhmermann

Aus der Türkei kommen immer besorgniserregendere Botschaften: Die Presse- und Meinungsfreiheit ist praktisch ausgehebelt, die parlamentarische Opposition nach der Aufhebung der Abgeordnetenimmunität geschwächt, das Volk in ständiger Angst vor Terror. Von demokratischen Prinzipien hat sich Präsident Erdogan weit entfernt. Auch seine Landsleute in Bayern sind bestürzt. BSZ: Herr Ünlü, wie besorgt sind Sie, wenn Sie an die Türkei denken?
Vural Ünlü: Derzeit ist die Situation in der Türkei sehr angespannt, das Land steht vor einer Zerreißprobe. Denn das terroristische Bedrohungsszenario ist nicht aus der Luft gegriffen. Tatsächlich gibt es mit der PKK und der islamistischen ISIS zwei Terrororganisationen, die das Land angreifen und destabilisieren. Viele Türken sehnen sich nach Sicherheit und Stabilität.
BSZ: Ist die Türkei noch ein demokratisches Land?
Ünlü: Medien- und Meinungsfreiheit stellen die Grundpfeiler einer Demokratie dar, und viele politische Kommentatoren werten den Absturz der Türkei in den relevanten Pressefreiheitsranglisten als besorgniserregend. Staatspräsident Erdogan ist der Meinung, dass das Land in dieser kritischen Situation eine auf ihn zugeschnittene Führung braucht und hält ein Präsidialsystem hierbei für das beste Modell. Gegner Erdogans werten die geplante Einführung eines Präsidialsystems jedoch als Schritt in Richtung eines autokratischen Ein-Mann Systems islamischer Prägung. Wichtig ist: Für das Gros der Türken in der Türkei und Deutschland steht das demokratische Modell trotz existentieller Sicherheitsgefahren nicht zur Disposition. Auch Atatürks Werte einer westorientierten und laizistischen Republik sind nicht verhandelbar. BSZ: Gerade wurden die Rechte der Opposition beschnitten, Erdogan kann Mitgliedern der prokurdischen HDP jetzt die Immunität entziehen. Keine sehr demokratische Lösung.
Ünlü: Man kann und sollte über berechtigte Interessen der kurdisch-stämmigen Bevölkerung und ihren Wunsch nach mehr Selbstbestimmung reden. Der bewaffnete Kampf der PKK ist aber nicht der geeignete Weg. Mit Ihren sozialistischen Wurzeln vertritt sie sicherlich auch nicht die kurdische Mehrheitsmeinung. Viele sunnitisch-religiös orientierte Kurden sind gar glühende ErdoganAnhänger. Besonnene Diplomaten rufen in dieser komplexen Gemengelage dazu auf, nicht nur auf militärische Konfrontation, sondern wieder auf klassischen Dialog zu setzen. Allerdings bräuchte man dafür einen Ansprechpartner, der sich offen von jeglicher Form von Terroraktivitäten distanziert. Aus türkischer Wahrnehmung hat die HDP dies nicht glaubwürdig genug gemacht. Stattdessen haben deren Abgeordnete Trauerfeiern von PKK-Selbstmordattentätern besucht, welches eine enorme Empörungswelle verursacht hat.
BSZ: Hat sich die Stimmung in der Türkei verändert?
Ünlü: Ja, die Polarisierung in der Bevölkerung nimmt nach den Unruhen, die 2013 mit den Gezi-Park-Protesten begonnen haben, immer weiter zu. Das ist Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es gibt fast nur noch glühende Erdogan-Fans beziehungsweise Menschen, die ihn total ablehnen; die liberale Mitte schmilzt weg. Diplomatie und der Ausgleich widerstreitender Interessen ist nicht Erdogans Sache. Aber seine robuste, polarisierende Art scheint auch sein Erfolgsrezept, insbesondere hinsichtlich der Bindekraft seiner anatolischen Stammklientel.

"Erdogan hat eine charismatische Wirkung auf seine Anhänger"

BSZ: Empfinden die Türken Erdogan als Charismatiker?
Ünlü: Zweifelsohne ist Staatspräsident Erdogan rhetorisch äußerst begabt und hat eine charismatische Wirkung auf seine Anhängerschaft. BSZ:  Befürworten Sie unter den gegebenen Umständen die Visafreiheit?
Ünlü: Es war ein Fehler, das Flüchtlingsabkommen mit der Visafreiheit zu verknüpfen. Die Visafreiheit für die Türkei ist eigentlich schon seit Langem fällig. Normalerweise ist es ja auch so, dass Visafreiheit auf Gegenseitigkeit beruht. Wenn Bürger eines Landes also visafrei in ein anderes einreisen können, sollte das umgekehrt auch gelten. Und die Deutschen können schon lange ohne Visum in die Türkei reisen. Tatsächlich leiden viele türkische Geschäftsleute unter der fehlenden Visafreiheit. Und auch Familien wird es oft schwergemacht, sich zu Feiern und Ähnlichem zu treffen. Man sollte die Visaliberalisierung daher entkoppelt vom Flüchtlingsabkommen rasch einführen. Ich sehe dabei auch nicht die Gefahr, dass dann massenweise illegale Einwanderung stattfindet, wie es die CSU befürchtet. BSZ: Und wie stehen Sie zum EU-Beitritt der Türkei?
Ünlü: Man sieht ja gerade in der Flüchtlingsdynamik, wie wichtig die Türkei aufgrund ihrer geostrategischen Lage für die EU ist. Insofern wäre eine Annäherung für beide Seiten wichtig. Die Bedingungen sind klar: Wenn ein Land die strikten Kopenhagener Beitrittskriterien erfüllt, sollte es der EU beitreten dürfen. Die Türkei muss sich darum bemühen, diese Kriterien zu erfüllen und die EU schon aus Eigeninteresse diesen Prozess unterstützen. Realistisch gesehen wird es noch einige Zeit dauern.

"Kein vernünftiger Türke will, dass Böhmermann bestraft wird"

BSZ: Aus der Türkei kommen jetzt Drohungen, den Flüchtlingsdeal platzen zu lassen, wenn die Visafreiheit scheitert.
Ünlü:  Drohgebärden sind – wenn überhaupt – taktische Manöver, aber sicherlich nicht hilfreich. Beide Seiten tragen eine gemeinsame Verantwortung, ein erneutes Sterben in der Ägäis zu unterbinden. Allein dieser moralische Imperativ gebietet es, sich schnell zu einigen und gemeinsam an einem Strang zu ziehen. BSZ: Hauptanliegen Ihres Verbandes ist die Integration der Türken in Deutschland und Bayern. Wie zufrieden sind Sie?
Ünlü: In Bayern funktioniert es besser als in anderen Bundesländern. Das liegt auch daran, dass Bayern wirtschaftsstärker ist und als Ergebnis die Arbeitslosenquote bei Migranten hier niedriger liegt als andernorts: Erwerbstätigkeit ist der wichtigste Schlüssel zur Integration. Positiv ist auch, dass türkischstämmige Migranten in Großstädten relativ organisch eingewoben sind, es also keine ethnischen Ballungsgebiete gibt wie etwa in Berlin oder in Nordrhein-Westfalen. Dennoch gibt es viel Luft nach oben.

"Das Betreuungsgeld ist ein Integrationshemmnis"

BSZ:  Und wo hakt es noch?
Ünlü: Möglichkeiten der politischen, sozialen, beruflichen und kulturellen Teilhabe sind immer noch beschränkt. Studien zeigen, dass es immer noch eine zu hohe Bildungsbenachteiligung gibt. Die Folge sind geringere Aufstiegschancen. Nötig wäre hier eine bessere Förderung von Migrantenkindern bereits im Kindergarten. Auch OECD-Bildungsexperten bewerten das bayerische Betreuungsgeld als Integrationshemmnis: Denn viele Eltern mit Migrationshintergrund aus sozial schwachen Umfeldern tendieren dazu, die 150 Euro monatlich vom Staat anzunehmen und ihre Kinder zu Hause zu versorgen, statt eine Arbeitsstelle und Betreuung zu suchen. BSZ:  Im Moment geht es viel um Fördern und Fordern. Kann man Integration einfordern?
Ünlü:  Dass Fördern und Fordern gut zusammenwirken, ist ja wissenschaftlich erwiesen. Die Kernfrage aus unserer Sicht ist: Wie sieht effizientes Fordern aus? Mit welchen Sanktionen konkret kann man Integrationsbummelanten oder gar -vollverweigerer zum Umdenken bewegen? In Frankreich hat sich eine harte Sanktionsstrategie in bestimmten Bereichen nicht bewährt: Dort entschieden sich nach dem Burka-Verbot noch mehr Frauen als vorher für das Tragen einer Burka, insbesondere als Zeichen des Protests. Sanktionen müssen in jedem Fall mit Augenmaß durchgeführt und motivationsorientiert konzipiert werden. Daneben halten wir es – allein schon aus einer ethischen Gerechtigkeitsperspektive – für notwendig, neben Sanktionen auch mit Belohnungen zu arbeiten und Menschen, die sich besonders bemühen, Vorteile einzuräumen. BSZ: Wie stehen Sie zum Begriff Leitkultur?
Ünlü:  Problematisch ist, dass der Begriff eine geringe ontologische Tiefe besitzt und genau das bedeutet, was gerade reininterpretiert wird. Als Minimumkonsens im Diskurs wird darunter Gesetzeskonformität beziehungsweise Verfassungstreue verstanden, im erweiterten Sinne auch der Spracherwerb bis hin zur Aufnahme der kulturellen Eigenheiten der Aufnahmegesellschaft. Leitkultur mit einer falschen Tonalität wirkt jedoch als rechter Mobilisierungsbegriff und stößt vor den Kopf, nach dem Motto: „Wir sind wir, und die anderen müssen sich anpassen“. BSZ:  Haben Sie Verständnis für Erdogans Reaktion auf die Böhmermann-Satire?
Ünlü: Drei Aspekte müssen unterschieden werden: der ästhetische, der politische und juristische. Unter ästhetischen Gesichtspunkten stellen wir in Übereinstimmung mit vielen Einheimischen Folgendes fest: Es war sicherlich keine Sternstunde der deutschen Satire. Ersetzen Sie das Wort „Erdogan“ durch „Migrant“ oder „Moslem“, und das Gedicht klingt wie reine Pegida-Lyrik. Genau das ist bei vielen Deutschtürken schlecht angekommen, die eben nicht auf Erdogans Seite stehen. Wenngleich kein vernünftiger Türke will, dass Jan Böhmermann angeklagt oder gar verurteilt wird. Politisch meine ich, dass der entsprechende Majestätsbeleidigungsparagraf abgeschafft gehört. Bleibt die strafrechtliche Bewertung: Der Staatsanwalt soll das prüfen, dort ist die Thematik am besten aufgehoben. BSZ:  Woran liegt es eigentlich, dass auch Türken, die schon lange in Deutschland leben, so gereizt reagieren, wenn man als Deutscher Kritik an der Türkei übt?
Ünlü:  Tendenziell gilt, dass die Diaspora-Identität von Migranten konservativer ist als im Herkunftsland. Die Regierungspartei AKP bekam bei den letzten Wahlen fast 60 Prozent der wahlberechtigten Stimmen in Deutschland, weit mehr als in der Türkei. Weiterer Erklärungsfaktor ist ein durch den Kemalismus tief verankerter Nationalismus. Wird die türkische Nation oder der Staatspräsident kritisiert, fühlen sich viele meiner Landsleute persönlich angegriffen.
(Interview: Waltraud Taschner)

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