Politik

07.05.2010

Ein Onkel in Koroni

Korruption und Gier allerorten – was ist an den Griechenland-Vorurteilen dran? Ein Erfahrungsbericht

Besten Freundinnen teilt man positive Nachrichten mit: „Ich habe ein Volontariat bei einer niederbayerischen Tageszeitung“, sagte ich ehedem via Telefon zu meiner griechischen Freundin M. Nach meinem Studienabschluss in Deutschland hatte ich endlich einen Ausbildungsplatz. „Bravo!“, brüllte sie im 3000 Kilometer entfernten Athen in ihr Handy und gleich darauf: „Sag mal, wen kennst du da, der dir die Stelle verschafft hat?“ „Ich habe ein Praktikum und einen Wissenstest gemacht und deshalb das Volontariat bekommen“, entgegnete ich pikiert. „Komm schon, so etwas geht nicht ohne einen Onkel in Koroni“, bedrängte mich M. Koroni ist ein Städtchen auf dem südlichen Peloponnes. Angeblich stammen von dort besonders viele Politiker und Beamte, die ihren Freunden und Verwandten Posten beim griechischen Staat, im griechischen Bankwesen, aber auch in der privaten Wirtschaft zuschanzen. Behauptet man von einem Hellenen, er habe einen Onkel in Koroni, unterstellt man ihm, von Vetternwirtschaft zu profitieren. Diese Redewendung ist als Synonym für Korruption im ganzen Land bekannt, und die wird überall zwischen Alexandroupolis und Zakynthos praktiziert. Auch in dem nahe Koroni gelegenen Städtchen Pilos. Dort sind M. und ich aufgewachsen und haben Abitur gemacht. In dieser Zeit lernten wir das Prinzip Koroni kennen. Und so viel ist mal sicher: Es ist viel zu komplex, um mit platten Schlagzeilen à la „Griechen, Volk der Steuerhinterzieher“ erklärt zu werden. Das Koroni-Prinzip lässt sich am ehesten mit dem Aufbruch eines ehemaligen Agrarstaats erklären, der nur halb in der Urbanisierung angekommen ist. Um der Arbeit auf Korinthenfeldern und in Olivenhainen zu entgehen, führt der Weg für viele häufig über das Wahlkreisbüro eines Abgeordneten – mit der Bitte um eine Stelle im öffentlichen Dienst, möglichst in Athen. Oft wurden auf diese Weise zumindest bis in die 1990er Jahre Menschen ohne jegliche Vorkenntnisse auf verantwortungsvolle Posten gebracht. In unserer Gegend gibt es einen solchen Beamten, der unter demselben Nachnamen wie der Chef der konservativen Partei Nea Dimokratia (ND) Andonis Samaras bekannt ist. Als Jugendliche sprach ich ihn mal mit „Herr Samaras“ an. Die Umstehenden krümmten sich vor Lachen, er blickte mich böse an. Später erfuhr ich, dass er einen ganz anderen Nachnamen trägt und nur deshalb Samaras genannt wird, weil jener Politiker sein Taufpate ist und ihm den Posten beim Staat besorgt haben soll. Dem richtigen Samaras wiederum soll diese Verbindung bei jedem Urnengang schätzungsweise 60 Wählerstimmen einbringen, denn der gesamte Clan des Täuflings wählt den Politiker seit Jahrzehnten. Aus Dankbarkeit – und aus Hoffnung auf das eine oder andere weitere Pöstchen für Kind und Kegel. Samaras hat in unserer Gegend viele Kinder getauft. Er ist aber keine Ausnahme: Fast jeder Politiker in Griechenland betätigt sich emsig als Trauzeuge oder Taufpate – so funktioniert Wähler-Mobilisierung auf Griechisch. Und es erklärt ein Stück weit, warum sich trotz eines ansehnlichen Parteienspektrums einzig Sozialisten und Konservative an der Alleinregierung abwechseln: Alle anderen haben keine nennenswerte Posten zu vergeben. In diesen Tagen wird viel über „griechische Methoden“ geschrieben. Ein Großteil davon entspricht der Wahrheit. Da ist zum Beispiel die Sache mit den Fakelakia: jenen Umschlägen, in denen vor allem Krankenhausärzte von Patientenangehörigen Geld zugesteckt bekommen. Die können bei einem komplizierten Eingriff schon mal den Gegenwart eines Kleinwagens enthalten. Ich habe solch einen Chirurgen „mit großen Taschen“ erlebt. Ich habe aber auch einen jungen Mediziner kennengelernt, der ein Weihnachtsgeschenk in Form eines Geldbetrags vehement abgelehnt hat. „Wir sind nicht alle so“, sagte er zu meiner Mutter. Viele Dinge in Griechenland sind absurd und falsch. Dennoch ist Korruption keine nationale Charaktereigenschaft. Es handelt sich um ein inzwischen tradiertes System, in dem die Grenze zwischen Tätern und Opfern fließend ist. In dem wahnwitzige staatliche Fürsorge und empörende Ungerechtigkeit koexistieren. Ein gutes Beispiel dafür, wie ein wohlgemeintes staatliches Zugeständnis via Geschichtsbeugung missbraucht wird, sind die Widerstandsrenten: Einige der Bezieher haben niemals einen Akt des Ungehorsams gegen die deutschen Besatzer unternommen. Dafür ist es ihnen später gelungen, zwei Zeitzeugen zu finden, die ihnen wider besseren Wissens politische Aufmüpfigkeit bestätigt haben. Kuriositäten griechischer Gesetzgebung füllen in vielen deutschen Zeitungen die Rubrik „Witz des Tages“: Dahin gehört beispielsweise auch die Norm, dass einerseits Mütter ab dem vierten Kind lebenslang Kindergeld beziehen; ihre kompletten Familien dürfen unter anderem vergünstigt Bus fahren und ins Kino gehen. Andererseits gibt es für Familien mit bis zu drei Kindern überhaupt keinen Zuschuss. Die aber sind die große Mehrheit: Die durchschnittliche Geburtenrate liegt in Griechenland bei 1,3 Kindern pro Familie. Angst vor dem Kinderkriegen wird von Angst vor Krankheit übertroffen: Die staatlichen Kliniken sind auch wegen ihrer gigantischen Verwaltungsapparate finanziell am Ende: Mittlerweile müssen Angehörige von Kranken Verbände, Desinfektionsmittel, Klopapier, Spritzen und Windeln selbst kaufen. Mein Cousin Jorgos ist Apotheker, neuerdings verkauft er diese Dinge verstärkt. Dafür ist er von sechs Krankenkassen seit zwei Jahren nicht mehr bezahlt worden, weil sie zahlungsunfähig sind. Geprellte Pharmazeuten wie Jorgos gehören regelmäßig zu den Demonstranten vor dem griechischen Parlament. Ebenso wie die so genannte 600-Euro-Generation: Jungakademiker, die für Praktikanten-Gehälter Vollzeit schuften. Landwirte, die durchschnittlich 350 Euro Rente beziehen. Beamte des einfachen Diensts, die auf zehn Prozent ihres Gehalts verzichten sollen. Lehrer, die seit fast einem Jahrzehnt auf der Warteliste des Schulministeriums stehen und seitdem als Aushilfskräfte in Drogerien und Pizzerien arbeiten. Die meisten dieser Protestler plädieren übrigens für Sparmaßnahmen: Spitzenverdiener unter den Freiberuflern rückwirkend zur Kasse bitten. Den Rüstungsetat drastisch senken. Die Akademiker-Flut durch Ausbildungsberufe eindämmen. Banken zur Selbstverpflichtung bringen, damit sie nicht länger leichtfertig private Kredite vergeben. Dass Letzteres immens zur Misere beigetragen hat, ist unbestritten. „Unsere Gesellschaft ist amerikanisiert“, sagt meine Freundin M. Sie muss es wissen: Neben ihrem griechischen BWL-Abschluss hat sie einen Master an einer Chicagoer Universität erworben. Weil ihr aber der Onkel aus Koroni fehlt, verkauft sie Versicherungen. In den 1990er Jahren sei es losgegangen: Da hätten reihenweise normalverdiendende Griechen ihr Ferienhaus, ihren Zweitwagen, Schmuck, Boote und Kunst versichert. „Wie wollen die das bezahlen? Das Meiste ist doch ohne Sicherheiten kreditfinanziert?“, habe sie damals gedacht. Zurzeit ist M. allerdings damit beschäftigt viele dieser Versicherungen aufzulösen, weil die Objekte verkauft oder verpfändet wurden. Neuerdings erlebt sie, dass manche ihre Kfz-Versicherung kündigen – und ohne Schutz weiterfahren. Im Gesichtsunterricht lernten M. und ich einst, dass im Jahr 1893 Griechenlands damaliger Ministerpräsident Charilaos Trikoupis dem Volk verkündete: „Bedauerlicherweise sind wir bankrott.“ Wir könnten die Ängste dieser Menschen heute nicht mehr nachvollziehen, dozierte damals unser Lehrer. „Inzwischen können wir das sehr gut“, sagt M. (Alexandra Kournioti)

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