Politik

Kritiker fürchten, durch eine Chip-Karte würden benachteiligte Kinder noch weiter ausgegrenzt. Foto: DPA

27.08.2010

Einmal Bildung, bitte

Soziale Hilfe oder Stigma? Die Union streitet über eine Chipkarte für Hartz-IV-Kinder

Seit 1986 gibt es den Nürnberg-Pass, mit wachsendem Erfolg. 31.000 einkommensschwache Menschen haben sich den kostenlosen Faltkarton in diesem Jahr besorgt, davon rund 24 000 Hartz-IV-Empfänger und mehr als 10.000 Kinder. Sie können mit dem Pass ein Jahr lang kostenlos in Sportvereine gehen, bekommen Rabatte beim Ferienprogramm, in Theatern, Bibliotheken, bei Nahverkehrstickets oder ein preiswerteres Mittagessen in der Schulkantine. Der Pass kostet die Stadt jährlich einen höheren fünfstelligen Betrag.
In München gibt es ein ganz ähnliches Angebot auf freiwilliger Basis, das sozial schwachen Familien hilft. So oder so ähnlich stellt sich Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) eine Bildungs-Chipkarte vor, die sie ab dem kommenden Jahr in einzelnen Regionen erproben und 2012 bundesweit einführen will, dann allerdings verpflichtend.
Damit soll die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts erfüllt werden, mehr für die Bildung von Kindern aus Hartz-IV-Familien zu tun. Doch dies könnte schwierig werden: Kaum war von der Leyens Vorstoß öffentlich geworden, begannen die Kontroversen. Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) warnte vor der Erstellung „künftiger Bewegungsprofile von Kindern und Jugendlichen“ und der Zerstörung bereits vorhandener kommunaler Angebote, was von der Leyen empört zurückwies.


Skepsis bei den Sportvereinen


In Freistaat sind nach Angaben des Sozialministeriums 141.500 Kinder unter 15 Jahren von Hartz IV oder Hilfe zum Lebensunterhalt betroffen, dies entspricht einer Quote von 7,9 Prozent. Die Regierung lehnt zusätzliche Sachleistungen für diese Gruppe, wie Bildungsgutscheine, strikt ab. „Die Chipkarte an sich bringt keinen Mehrwert für Familien. Vergünstigungen für sozial schwächere Kinder bietet heute nahezu jede Kommune, von Ermäßigungen in Freizeitanlagen über Ferienpässe bis hin zur Übernahme von Beiträgen im Sportverein“, sagt Bayerns Sozialministerin Christine Haderthauer (CSU).
Norbert Kays, Mitarbeiter im Nürnberger Sozialamt und verantwortlich für den Nürnberg-Pass, weiß aus Erfahrung, dass die Erprobung eines solchen Angebotes nicht auf die Schnelle klappen kann: „Ein solches System aufzubauen, braucht Jahre und ist mit viel Überzeugungsarbeit bei den Anbietern verbunden.“ Zudem ist noch völlig unklar, was die Chipkarte kosten und wie die praktische Umsetzung aussehen soll.
Auch deshalb stehen die meisten Parteien der Chipkarte skeptisch gegenüber: „Ich fürchte, dass bei einer flächendeckenden Einführung ein bürokratisches Monster erschaffen wird, das einfach zu viel kostet“, sagt Thomas Beyer, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion. Die Freien Wähler halten die Karte für eine interessante Idee, die jedoch laut deren Familienexpertin Claudia Jung nicht zu neuen Belastungen für die Kommunen führen sollte.
Bernd Buckenhofer, stellvertretender Geschäftsführer des Bayerischen Städtetags, warnt: „Zusätzliche Kosten können nicht von den Städten und Kommunen übernommen, sondern müssten vom Bund getragen werden.“
Auch in Nürnberg gab es vor einigen Jahren Überlegungen, statt des Kar-tonausweises eine Chipkarte einzuführen. Sie scheiterten am Geld. Für die FDP ist dieses Argument haltlos. „Entscheidend ist, dass die Chipkarte umgesetzt wird und das Geld damit endlich bei den Kindern ankommt. Denn am teuersten ist schlechte Bildung“, sagt deren parlamentarischer Geschäftsführer Tobias Thalhammer.
Die betroffenen Institutionen sehen derweil Probleme auf sich zukommen: „Chipkarte, Sportverein, Jugendlicher, das passt für mich noch nicht so recht zusammen“, sagt derChef des Bayerischen Landes-Sportverbandes, Peter Koller. Ein solches Instrument müsse den sehr einfachen Gegebenheiten in einem Sportverein angepasst werden.
Ein weiteres Problem: Die Jugendlichen könnten bei Vorlage ihrer Karte als bedürftig erkannt werden. Womöglich sind sie unangenehmen Nachfragen anderer Kinder ausgeliefert. Eine nur auf Kinder von ALG-II-Empfängern gerichtete Karte hält SPD-Politiker Beyer daher für schwierig, „denn ein solches isoliertes System könnte zur Stigmatisierung beitragen“.
Sozialamts-Mitarbeiter Kays kennt solche Bedenken auch aus der Praxis mit dem Nürnberg-Pass: „Manche Menschen haben mir schon am Telefon erzählt, dass sie sich mit einem solchen Pass diskriminiert fühlen.“ Dennoch hält Kays die Lösung in seiner Stadt für sinnvoll: „Ich finde einen offenen Umgang mit der Armut allemal besser, als die Realität in einer Ecke verschwinden zu lassen.“ (Sebastian Winter)

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