Politik

Manche Bergregionen gleichen einem Friedhof: Erinnerung an einen verunglückten Bergwanderer. (Foto: loh)

18.12.2015

Freiheit bis zum Tod

2015 sind besonders viele Bergwanderer verunglückt – Konsequenzen ziehen Verbände und Politik daraus nicht

Zeitungsleser erwartete dieses Jahr fast jeden Montag die gleiche Nachricht: „Bergwanderer am Wochenende tödlich verunglückt“. Allein in der letzten Juniwoche kam es in Österreich zu 13 tödlichen Alpinunfällen. Insgesamt sind im Sommer 87 Wanderer und Kletterer in den österreichischen Bergen ums Leben gekommen – 18 mehr als im Vorjahreszeitraum. 36 Prozent davon waren deutsche Staatsbürger. Selbst im Dezember kam es wegen des sonnigen Wetters noch zu tödlichen Abstürzen. Der Schweizer Alpen-Club meldete für 2015 genau 150 Bergtote – eine Steigerung um 50 Prozent. Auch in Bayern sind die Notfalleinsätze von 5830 im vergangenen Jahr auf 6935 in diesem Jahr gestiegen. Genauere Zahlen gibt es bisher nicht. Sie werden laut Innenministerium zur Unfallforschung dieses Jahr erstmalig gemeinsam mit dem Kuratorium für Alpine Sicherheit erhoben. Der deutsche Alpenverein (DAV) geht aber von 30 bis 40 toten Mitgliedern pro Jahr aus – wegen des Hitzesommers dürfte dieses Jahr aber wie 2003 ein Ausreißerjahr sein.

Der Grund für die Zunahme der tödlich verunglückten Wanderer ist neben dem guten Wetter die zunehmende Popularität des Bergsports. Die Mitgliederzahlen des DAV haben sich von 200 000 im Jahr 1970 auf 1,1 Millionen erhöht. So verwundert es nicht, wenn zwischen 2008 und 2012 in den bayerischen Alpen 15 und in Österreich sogar 73 neue Klettersteige in den Berg gehauen wurden. Die wachsende Beliebtheit zeigt sich nicht zuletzt an den 450 Kletterhallen in Deutschland mit nicht selten über 1000 Quadratmetern und der Umsatzsteigerung der Outdoorbranche von 1,4 auf 1,8 Milliarden Euro innerhalb von fünf Jahren. Das neue Equipment wiegt allerdings viele in falscher Sicherheit: Berghüttenwirte berichten von einem großen Vorrat an Blasenpflastern, weil die Schuhe noch nicht eingelaufen sind. Oder davon, wie junge Menschen nach einer durchzechten Nacht vor dem Klettersteig noch ein Weißbier trinken. Nebelhorn-Hüttenwirt Matthias Geiger erinnert sich sogar an Nachfragen nach Klebeband, weil die Bergwanderer ihre Schuhsohlen wieder ankleben wollten.

„Grundsätzlich liegen die Ursachen meist in Selbstüberschätzung und mangelnder Ausrüstung“, bestätigt die Geschäftsführerin des bayerischen Wanderverbands, Susanne Göller. Ein weiterer Grund seien die immer stärker ausgebauten Klettersteige, die eigentlich nur von sehr gut ausgebildeten Kletterern mit hervorragender Kondition bestiegen werden könnten. „Die Aufstiegshilfen vermitteln darüber hinaus ein trügerisches Gefühl der Sicherheit.“ Tatsächlich ist laut österreichischem Kuratorium für alpine Sicherheit die häufigste Unfallursache beim Bergwandern schlicht ein falscher Schritt: 40 Prozent der Todesfälle ist auf Stolpern zurückzuführen. 37 Prozent der Unfälle wurden durch Herz-Kreislauf-Versagen verursacht. Lediglich zehn Prozent der Bergwanderer verunglücken tatsächlich durch einen Absturz.

Die häufigste Todesursache: Stolpern

Bergwanderer zu einer Schulung verpflichten will die Politik trotz der gestiegenen Notfalleinsätze nicht. Die bayerische Verfassung garantiert das Recht auf „Zugang zu den Naturschönheiten“, argumentiert beispielsweise der Landtagsabgeordnete und passionierte Bergsteiger Florian von Brunn (SPD). Eine Art Führerschein, wie er zum Beispiel beim Segeln, Tauchen oder Surfen vorgeschrieben ist, lehnt er daher ab. „Es kann nicht sein, dass nun noch bürokratische Hindernisse für Bergtouren geschaffen werden“, ergänzt Joachim Hanisch (Freie Wähler). Wichtig sei eine gute Ausschilderung – der Rest müsste dem „gesunden Menschenverstand mündiger Bürger“ überlassen werden. Die Grünen glauben auch nicht, dass die Einführung eines Bergführerscheins in der Praxis durchführbar wäre. Die Berg- und Wanderverbände setzen ebenfalls auf freiwillige Schulungen. Dabei kostet die Bergrettung viel Zeit und den Steuerzahler viel Geld.

3200 ehrenamtliche Bergretter helfen in den bayerischen Alpen und Mittelgebirgen Menschen in Not. Drei Millionen Euro erhält die Stiftung Bergwacht dafür vom Freistaat, weitere drei Millionen Euro von den Krankenkassen. Zusätzlich müssen die Bergwachten vor Ort Spenden eintreiben, um die laufenden Kosten stemmen zu können. „Lediglich für nicht notfallmedizinische Einsätze werden nach dem Verursacherprinzip Rechnungen an Einzelpersonen gestellt“, erläutert Roland Ampenberger vom Bergwacht-Zentrum für Sicherheit und Ausbildung. Die Forderung des Bergrettungsdiensts Tirol, Tourismusverbände an den Kosten für die Bergrettung zu beteiligen, lehnen das Innenministerium und die Opposition allerdings ab. „Das widerspricht dem Solidarprinzip“, argumentiert der Grüne Ulli Leiner. „Dann müssten ja auch Fußballverbände, Fahrradclubs und viele andere Freizeitverbände an den Kosten beteiligt werden.“

Der DAV allerdings, der einen Teil seiner Mitgliedsbeiträge an die Bergwacht abführt, findet die Idee die durchaus „spannend“. „Der Tourismus profitiert von den Wanderern, wirbt damit und zieht einen Gewinn daraus“, erklärt der Ressortleiter Breitenbergsport, Stefan Winter. Er könnte sich daher eine Art Kurtaxe vorstellen, die in Bergregionen wie Berchtesgaden von den Gästen gezahlt und an die Bergrettungsdienste weitergeleitet wird. Vor allem die um 46 Prozent gestiegenen „Blockierungen“ würden hohe Kosten verursachen. Das sind Situationen, in denen sich Menschen verlaufen, in denen sie dehydriert sind oder am Berg weder vor noch zurückkommen. Winter mahnt Kletterer und Bergwanderer daher wieder zu mehr Respekt und Demut vor den Bergen. Das Recht auf Risiko und damit zur eigenverantwortlichen Selbstgefährdung müsse aber bestehen bleiben: „Die Freiheit und Unsicherheit, in Notlagen zu kommen, macht doch den Bergsport aus.“ (David Lohmann)

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