Es geschah vor 47 Jahren. Kein einziger Tag, sagt Fadumo Korn, ist seitdem vergangen, an dem sie nicht daran denken musste. Ein glückliches Nomadenmädchen aus Somalia war die damals Siebenjährige. Und dann war da nur noch Schmerz. Die eigene Mutter und eine Tante drückten sie zu Boden, eine alte Frau riss ihr die Beine auseinander und schnitt ihr mit einer Rasierklinge in die Scheide. Immer und immer wieder. „Ich weiß noch, wie mir das Blut über die Beine lief“, sagt Korn. „Ich spüre die Klinge, ich höre mich schreien.“ Am Ende dieser Tortur nähte die alte Frau die Scheide des Mädchens bis auf eine winzig kleine Öffnung zu.
Wenn Fadumo Korn, die heute in München lebt, über diesen Tag spricht, macht sie das in einer sehr direkten Sprache. Sie wolle nicht drumherum reden, sagt sie. „Ich will, dass die Menschen verstehen, was diese grausame Praxis bedeutet.“ Die 54-jährige Dolmetscherin engagiert sich seit vielen Jahren gegen die weibliche Genitalverstümmlung, international abgekürzt mit FGM (Female Genital Mutilation). In mehr als 30 Ländern vor allem Afrikas und des Mittleren Ostens wird FGM nach wie vor praktiziert. Jährlich werden laut Unicef drei Millionen Mädchen an ihren Genitalien verstümmelt. Die Folgen für die Mädchen, die diese Tortur überleben, sind Traumatisierung, lebenslange Schmerzen, Infektionskrankheiten und oftmals der Verlust jeglicher Sexualität.
Aber auch in Deutschland sind Mädchen bedroht. Grund ist der gestiegene Zuzug aus Ländern wie Eritrea, Somalia oder Irak. Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes schätzt, dass hierzulande 58 000 betroffene Frauen leben – und 13 000 Mädchen in der Gefahr, beschnitten zu werden. Das bayerische Gesundheitsministerium geht für den Freistaat von 7800 Opfern und 1500 gefährdeten Mädchen unter 18 Jahren aus.
Es gebe zwar noch keinen einzigen dokumentierten Fall in Deutschland, sagt die FGM-Fachreferentin von Terre des Femmes, Charlotte Weil. Da heiße aber nicht viel. Denn keiner spreche darüber. Viele Mädchen würden auch im Ausland beschnitten. Der Gesetzgeber hat darauf reagiert. Seit 2015 machen sich Eltern auch dann strafbar, wenn sie ihre Tochter zur Beschneidung ins Ausland bringen. Und seit Mitte 2017 können Behörden die Pässe der Reisenden einbehalten, sollte einem Mädchen die Beschneidung drohen.
„Das Gesetz ist ein wichtiges Signal, aber es alleine schützt nicht“, sagt Verena Osgyan, frauenpolitische Sprecherin der Landtags-Grünen. Wichtiger seien Hilfsangebote und Aufklärungsarbeit. „NGOs und Vereine, die in diesem Bereich präventiv tätig sind, müssen endlich besser unterstützt werden.“ „Ohne Aufklärung ist das Gesetz nutzlos“, bestätigt Korn.
Der Arzt lief schreiend weg
Das Problem: Das Delikt wird so gut wie nie angezeigt. In Bayern ist nach Auskunft des Justizministeriums seit 2013 genau ein einziges Strafrechtsverfahren wegen FGM bekannt. Es wurde eingestellt. Der soziale Druck in den Communitys und in den Familien ist groß. Und zu tief das Schweigen. „Niemand spricht über die Genitalverstümmelung“, sagt Korn. „In allen Kulturen ist diese Praxis ein Tabu. Genau das macht es auch so schwer, an die Betroffenen und die Gefährdeten heranzukommen.“
Bayerns Gesundheitsministerium verweist auf eine „Vielzahl von Beratungs- und Interventionsangeboten“. Dazu gehören die 96 Jugendämter, die koordinierenden Kinderschutzstellen und 180 Erziehungsberatungsstellen. Die dort tätigen Fachkräfte hätten zudem einen Überblick über weitere Hilfsangebote vor Ort. Nicht ausreichend nennen Opposition und Hilfsorganisationen dieses Angebot dagegen. Betroffene würden damit kaum erreicht. Außerdem seien die Mitarbeiter der Ämter und Beratungsstellen nicht ausgebildet, um mit dem hochsensiblen Thema richtig umgehen zu können, betont FGM-Fachfrau Weil.
Terre des Femmes setzt für die Präventionsarbeit sogenannte Kulturmittlerinnen ein. „Das sind Frauen, die die Kultur und Sprache kennen und bestenfalls Teil der jeweiligen Community sind“, erklärt Weil. „Damit bekommen sie einen Zugang zu den betroffenen Frauen, der jeder deutschen Sozialarbeiterin verschlossen bleibt.“ Weil fordert einen Pool solcher Kulturmittlerinnen – samt entsprechender Bezahlung. „Bisher machen diese Frauen ihre Arbeit zum großen Teil ehrenamtlich“, sagt Weil.
So wie Fadumo Korn, die selbst als somalische Kulturmittlerin tätig ist. Einige wenige Wochenstunden finanziere ihr die Stadt, der Rest sei Ehrenamt. So betreut sie etwa mit ihrem Verein NALA eine Gruppe von Mädchen, denen sie die Traumatisierung ihrer Beschneidung zumindest teilweise zu nehmen versucht. „Wir, die gegen die weibliche Geschlechterverstümmelung kämpfen, machen das aus Überzeugung“, sagt Korn. „Aber unseren Kräften sind Grenzen gesetzt.“
Als Korn in den 1980er-Jahren einen Frauenarzt aufsuchte, weil sie sich operativ wieder öffnen lassen wollte, lief der schreiend davon. „Heute ist die Situation etwas besser“, sagt sie. „Es gibt einige wenige Ärzte, die sich mit Genitalverstümmelung auseinandergesetzt haben.“ In München ist das beispielsweise die Frauenklinik der LMU. Und im Klinikum Nürnberg haben im vergangenen Jahr 20 beschnittene Frauen entbunden. Doch das sind Ausnahmen. Es gibt inzwischen zwar Fortbildungen unter anderem von der Landesärztekammer. „Ob diese Maßnahmen aber flächendeckend zu einer stärkeren Kompetenz des gesundheitlichen Personals in Bayern geführt hat, wenn es um den konkreten Umgang mit Betroffenen und Gefährdeten geht, ist schwer zu sagen“, meint Osgyan. Zahlen zu weiblicher Genitalverstümmelung als ärztliche Diagnose werden erst seit Anfang 2016 erfasst.
SPD und Grüne in Bayern fordern mehr Schulungen für medizinisches Personal – und auch für Mitarbeiter in Jugendämtern, Kindergärten, Schulen und der Polizei. Terre des Femmes will darüber hinaus, dass sogenannte U-Untersuchungen für alle Kinder verpflichtend werden und die Untersuchung der Genitalien miteinschließen.
Vom Gesundheitsministerium kommt dafür eine Absage. Bayerns Ärzte müssten gewichtige Anhaltspunkte für eine Misshandlung, Vernachlässigung oder sexuellen Missbrauch eines Kindes ohnehin dem Jugendamt melden, so ein Sprecher. Das schließe auch Genitalverstümmelungen mit ein. Allerdings: Melden kann man nur etwas, was man auch zu Gesicht bekommt.
(
Beatrice Oßberger)
Ein Interview mit Fadumo Korn zu dem Thema finden sie hier.
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