Politik

Die beste medizinische Versorgung bekommt oft nur, wer bereit ist, dafür extra zu zahlen. (Foto: Bilderbox)

23.07.2010

Herrschaft durch Unübersichtlichkeit

Die Zwei-Klassen-Medizin ist längst Realität – was Seehofer und Co gerne wortreich verschleiern

Neulich scheiterte Horst Seehofer bei dem Versuch, in kleinem Kreis ein gesundheitspolitisches Detail zu erklären. Es ging um die Zusatzbeiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung, die anstandshalber nicht zu hurtig steigen sollen. Niemand, der dem Ministerpräsidenten lauschte, kapierte den in Berlin ausgeklügelten Verhinderungsmechanismus.
Genau das war im Sinne sämtlicher Gesundheitspolitiker, auch der gerade abwesenden. Herrschaft durch Unübersichtlichkeit, das ist die Methode. Sie sorgt dafür, dass nur noch Spezialisten Bescheid wissen und funktioniert etwa in der Bildungspolitik schon lange. Tausenden von Eltern schwirrt der Kopf, sobald sie sich bemüßigt fühlen, in Gesprächen mit den Lehrern politischen Nachhilfeunterricht zu nehmen.
Seit Jahren nun sind es vor allem die Patienten, die aus dem Staunen nicht herauskommen – und auch gar nicht herauskommen sollen. Ein Beispiel: Mit Sonderregelungen hatte einst Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) den Hausärzteverband verwöhnt, der jetzt wieder entwöhnt werden soll und deshalb Zeter und Mordio schreit. Um die Einzelheiten zu kapieren, benötigt sogar der in Bayern zuständige Minister Söder (CSU) eine Fachabteilung.
Je hingebungsvoller jedoch Sachverhalte verkompliziert werden, desto mehr ist die Obrigkeit gezwungen, zum Ausgleich simple Thesen unters Volk zu streuen. Seehofer stellt sich hin und behauptet, das deutsche Gesundheitssystem sei das beste auf der ganzen Welt. Nicht durch Wahrhaftigkeit, wohl aber durch Allgemeinverständlichkeit bestach einst schon Edmund Stoibers Ankündigung, jedem Kassenpatienten werde die nach aktuellem Forschungsstand jeweils beste Behandlung zuteil.
Mit ihrem Sprüchlein von der Spitzenmedizin für jedermann stößt Kanzlerin Merkel ins gleiche Horn. Kassenpatienten wissen es besser. Sie kennen den niedergelassenen Arzt, der nach der Untersuchung in gedehntem Ton verkündet, Hilfe und Heilung brächte ein hervorragendes Präparat, doch dummerweise dürfe er es auf Kassenrezept nicht verschreiben. Sie kennen auch den robusteren Typ, der frank und frei erklärt, das in Rede stehende Mittel sei nun mal das beste und lohne deshalb ein finanzielles Privatopfer in dreistelliger Höhe. Oder den Gentleman, der nie über Geld redet und einfach voraussetzt, dass sein Kassenpatient in der Apotheke mit einem großen Betrag klein beigibt. Ganz zu schweigen von der Krankengymnastin, die irgendwann murmelt, die Therapie wäre wirkungsvoll, wenn sie viel länger dauern dürfte als eine lächerliche Viertelstunde.
Auf diese Weise mutieren die Kassenpatienten zu halben Privatpatienten. Wer sich den schleichenden Übergang nicht leisten kann, und das sind viele, wird eben unzureichend behandelt. Was natürlich niemand zugibt, die Pharmaindustrie so wenig wie die Herolde der Spitzenmedizin für jedermann. Die übliche Ausrede, Präparat B sei genauso gut wie Präparat A und in der nächsten Klinik der Professor auch nicht besser als der letzte Operateur, stimmt manchmal, aber eben nur manchmal.
Die Zwei-Klassen-Medizin ist längst gesellschaftliche Wirklichkeit. Die Lobreden auf das System kommen den Politikern so leicht von den Lippen, weil sie sich mit den Leistungskatalogen gar nicht erst beschäftigen. Bei den Finanzen kennen sie sich bis zur ersten Stelle hinter dem Komma aus. Jawohl, der Beitragssatz steigt von 7,9 Prozent des Bruttolohns auf 8,2 Prozent. Über die kontinuierlichen Leistungskürzungen aber verlieren sie schon deshalb kein Sterbenswörtchen, weil sie in dieser Angelegenheit auf Wolke sieben sitzen.
Was die Kassen zu leisten noch bereit sind, wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit festgelegt. Stelle sich doch einmal jemand vor, der Einzelhandel verführe nach diesem Prinzip und forderte einen festen Preis für eine vorerst unbekannte Ware. Es kommt nicht selten vor, dass ein Facharzt von seiner Sprechstundenhilfe belehrt wird, dass er dies und jenes gar nicht mehr verschreiben dürfe – so groß ist das Tempo, mit dem eine Restriktion der anderen folgt.
Zu den derzeitigen Gesundheitspolitikern zählt, seiner Biographie wegen, auch Ministerpräsident Seehofer. Er, der einstige Bundesgesundheitsminister, hat Erfahrung, hat auch Einblicke und als CSU-Vorsitzender einen gewissen Einfluss. Nur eine tragende Idee hat er nicht. Er ist auch gar nicht scharf darauf, denn Politik besteht für ihn in der Kunst, über die Runden zu kommen, und zwar bis zum Ende einer Legislaturperiode. Er tut so, als bekämpfe er die Kopfpauschale, und kämpft doch nur gegen eine Worthülse, an der Bundesgesundheitsminister Rösler allerdings einen Narren gefressen hat. (Roswin Finkenzeller)

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