Politik

US-Präsident Barack Obama belauscht Kanzlerin Angela Merkel – wie ahnungslos waren die deutschen Geheimdienste wirklich? (Foto: dpa)

29.11.2013

"Ich bewundere Snowdens Leistung"

Ex-Verfassungsschützer Winfried Ridder über die Massenüberwachung durch die NSA, die Ahnungslosigkeit des deutschen Verfassungsschutzes und notwendige Konsequenzen

Erst NSU, jetzt NSA – Winfried Ridder, 20 Jahre lang Referatsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln, fordert angesichts des Versagens des deutschen Verfassungsschutzes einen radikalen Umbau des Systems. Zivilgesellschaft, Medien und Sozialwissenschaft haben heute eine viel größere Kompetenz als die dafür vorgesehenen Behörden, sagt der 75-Jährige.
BSZ: Herr Ridder, ist Ihr Handy eigentlich abhörsicher?
Winfried Ridder: (lacht) Nein, aber ich gehe in der Tat davon aus, dass wir seit Mitte der 1990er Jahre massiv kontrolliert werden. Wir haben es mit einer Massenüberwachung zu tun, die in dieser Dimension überrascht – auch wenn einige wenige engagierte Autoren und Experten davon wussten. BSZ: Der Verfassungsschutz, zuständig für Spionageabwehr, gibt sich ahnungslos. Glauben Sie ihm das?
Ridder: Auf der Arbeitsebene sind grenzüberschreitende Aktivitäten natürlich registriert worden, wenn sie in einem Zusammenhang mit konkreten Kooperationen zwischen den Geheimdiensten standen. Diese systematische Massenüberwachung, gerade auch was die Dimension der Überwachung hochrangiger Politiker betrifft, hat man aber nie realistisch eingeschätzt. BSZ: Man kannte also Einzelfälle, hat diese aber nicht zu einem Gesamtbild zusammengepuzzelt?
Ridder: Ja, auch weil man immer zwischen befreundeten und gegnerischen Diensten unterschieden hat. Das Weltbild der deutschen Dienste war so schlicht, obwohl es seit Langem Hinweise gab, dass man zwischen Freund und Feind nicht so einfach unterscheiden kann.

BSZ: Kann es zwischen Staaten überhaupt Vertrauen geben?
Ridder: Viele verneinen das heute, ich sehe das aber differenzierter. Geheimdienste befreundeter Staaten arbeiten in vielfältiger Form zusammen. Es gibt zum Beispiel den Berner Club – ein Gesprächskreis, in dem sich alle Präsidenten und Chefs der europäischen Nachrichtendienste zwei Mal im Jahr austauschen. Dazu passt eine Überwachung in dem Ausmaß, wie sie tatsächlich stattfand, nicht. Hier muss man nun endlich – vorrangig auf EU-Ebene – einen Kodex finden, um zumindest die gröbsten Auswüchse zu beenden.

"Die NSA müsste vom NSU gewusst haben"

BSZ: Ist Edward Snowden in Ihren Augen Held oder Verräter?
Ridder: Wer in solchem Umfang Widerstand plant und auch organisiert, verdient allein schon wegen der Kraft, die das kostet, besondere Anerkennung. Ich persönlich glaube ja, dass das einen einzelnen Menschen, der noch dazu so jung ist, überfordert und frage mich deshalb, welche Kräfte hier noch mitgewirkt haben. Aber unabhängig davon halte ich das, was Snowden gemacht hat, für eine große und bewundernswerte Leistung. BSZ: Der deutsche Verfassungsschutz glänzte auch beim Thema Nationalsozialistischer Untergrund mit völliger Ahnungslosigkeit. Glauben Sie, dass die NSA hier mehr wusste?
Ridder: Wenn dieses System so effizient und so erfolgreich ist, wie es uns immer wieder weisgemacht wird, muss man sich das tatsächlich ernsthaft fragen. Schließlich hinterlassen Terroristen Spuren im Netz – denken Sie an den Nagelbombenanschlag im Jahr 2004 in Köln. BSZ: Und schließlich wird die Überwachung mit dem Ziel der Terrorismusbekämpfung gerechtfertigt.
Ridder: Dieser Begründung habe ich nie geglaubt. Und ich halte sie für eine Form von Desinformation. BSZ: Geht es also schlicht um wirtschaftliche Vorteile?
Ridder: Ich spreche hier von einem militärisch-industriellen Geheimdienstkomplex. Denn der ursprünglich militärische Aufklärungsdienst hat schon vor Jahrzehnten eine industrielle und eine politische Komponente hinzubekommen. Nach dem 11. September kam auch das terroristische Aufklärungsziel hinzu. Eine Massenüberwachung aber kann damit nicht gerechtfertigt werden.

"Das V-Mann-System gehört abgeschafft"

BSZ: Verfassungsschutz und Nachrichtendienste fordern nun Geld für bessere Technik und mehr Personal für die Spionageabwehr. Reicht das?
Ridder: Der Verfassungsschutz hat sowohl im Fall des NSU als auch der NSA eine Ahnungslosigkeit gezeigt, die  eine Evaluierung dringend nötig macht. Man muss sich fragen, welche Instrumente unter den heutigen Bedingungen noch greifen. Im Fall der Zwickauer Zelle waren nicht nur die menschlichen Quellen ein Problem. Auch die technischen Quellen, die eingesetzt worden sind, haben nachweislich nicht gegriffen. BSZ: Sie meinen zum Beispiel Internet- und E-Mail-Überwachung?
Ridder: Ja, aber klar ist auch: Der Verfassungsschutz muss radikal umgebaut werden. Die Empfehlungen im Abschlussbericht des Berliner NSU-Untersuchungsausschusses gehen in die richtige Richtung, aber noch nicht weit genug. Unsere Dienste sind heute Behörden mit einem hohen bürokratischen Anteil. Wir brauchen aber ein nachrichtendienstliches Institut, das eine starke Analysefähigkeit besitzt. Das, was an Kompetenz und Wissen in Zivilgesellschaft, Medien und der Sozialwissenschaft vorhanden ist, ist inzwischen deutlich dem überlegen, was sich in den dafür vorgesehenen Behörden entwickelt hat. Dieses strukturelle Defizit zu beheben, wird die zentrale Aufgabe sein. BSZ: Wie könnte so ein radikaler Umbau konkret aussehen?
Ridder: Man wird ernsthaft prüfen müssen, ob man die Spionageabwehr im Bundesamt und in den Landesämtern für Verfassungsschutz lässt oder ob man nicht besser eine eigene Spionageabwehr aufbauen sollte, in der alle Kompetenzen gebündelt werden. Und die Bekämpfung des gewalttätigen Extremismus sollte ausschließlich in der Zuständigkeit der Polizei liegen. Viele der Probleme, die auch zum Versagen bei der Untersuchung der NSU-Morde geführt haben, wären dann erst gar nicht entstanden. Ich weiß wohl, dass sich die Polizei bei dieser Ermittlungsarbeit keine besonderen Verdienste erworben hat. Aber der Dualismus von Polizei und Verfassungsschutz schwächt das gesamte System.
BSZ: Sie sind in München, weil Sie der nun leider verschobenen Zeugenvernehmung des ehemaligen V-Mannes Tino Brandt im NSU-Prozess beiwohnen wollten.
Ridder: Ja, für mich ist die Person Tino Brandt von ganz besonderem Interesse. Denn ich hoffe, und es besteht die Chance dazu, dass im Prozess sein ideologisches, also neonationalsozialistisches Profil und seine weltanschaulichen Überlegungen noch deutlicher werden. BSZ: Weil das Ihrer Kritik am V-Mann-System Nachdruck verleihen würde?
Ridder: Ja, was bereits zur Person von Tino Brandt sichtbar geworden ist, zeigt sehr deutlich, wie klassische menschliche Quellen aus dem Ruder laufen können. Sie sind oft nicht steuerbar. Das ganze System der V-Männer ist nicht kalkulierbar. Deshalb gehört es abgeschafft.
(Interview: Angelika Kahl)

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