Politik

Auch Kinder mit Behinderung haben das Recht, eine Regelschule zu besuchen. Und davon können nicht nur sie profitieren. (Foto: dapd)

25.05.2012

„In diesem Tempo brauchen wir noch 50 Jahre“

Inklusion: Im Freistaat wurde in diesem Schuljahr bereits viel unternommen, doch es gilt noch etliche Hürden abzubauen

Das erste Schuljahr, in dem Inklusion gesetzlich verankert ist, geht dem Ende zu. Vieles hat sich getan, doch das Ideal einer Schullandschaft, die jedem unabhängig von seinen Begabungen offensteht, liegt noch in weiter Ferne. Dass es eine leichte Aufgabe werden würde, hat wohl keiner angenommen. Doch mit der Unterschrift Deutschlands unter die UN-Behindertenrechtskonvention 2009 haben sich auch die Länder zur Schaffung eines inklusiven Schulsystems verpflichtet. Kein Kind soll wegen einer Behinderung von der Regelschule ausgeschlossen sein. Nach anfänglichem Zögern wurde das Thema auch in Bayern angepackt – mit einer fraktionsübergreifend zustande gekommenen Novelle des Schulgesetzes.


Insgesamt 200 zusätzliche Lehrerstellen wurden bewilligt

41 Schulen mit dem Schulprofil Inklusion gibt es nun in Bayern, es sind vorwiegend Grund-, Mittel- und Hauptschulen. Lehrkräfte von Förderschulen wurden eingebunden, 100 zusätzliche Lehrerstellen geschaffen. Weitere 100 sollen zum neuen Schuljahr folgen. Häufig unterrichten an diesen Profilschulen Lehrer im Tandem, was den individualisierten Unterricht erst möglich macht.
Doch die Bemühungen um inklusive Schulformen haben noch andere Formen hervorgebracht. Über die Profilschulen hinaus gibt es an Grund-, Mittel- und Berufsschulen Kooperationsklassen, in denen Schüler mit und ohne besonderen Förderbedarf gemeinsam unterrichtet werden. Stundenweise werden die Lehrer vom Mobilen Sonderpädagogischen Dienst (MSD) unterstützt. Zudem gibt es Partnerklassen an Förder- und Regelschulen, die eng zusammenarbeiten. Sie sind im gleichen Schulhaus untergebracht und werden regelmäßig gemeinsam unterrichtet. Dazu gibt es an Förderschulen die Möglichkeit, auch Regelschüler aufnehmen. Und nicht zuletzt haben alle Eltern nun das Recht, ihr Kind an jeder Regelschule anzumelden – so wie es die UN-Konvention vorgibt. Auch diese „Einzelinklusion“ wird vom Mobilen Sonderpädagogischen Dienst unterstützt, allerdings mit einer geringen Stundenzahl. Zudem gibt es den Anspruch auf einen Schulbegleiter. Laut Kultusministerium besuchen im Freistaat heute 16 141 Schüler mit besonderem Förderbedarf eine Regelschule.
Der von Bayern eingeschlagene Weg ermögliche „einen passgenauen Umgang mit den sehr unterschiedlichen Bedürfnissen der Kinder “, sagt Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU). Auch Eltern- und Lehrerverbände begrüßen das neue Gesetz: „Dass fünf Fraktionen gemeinsam ein Gesetz entwickeln, das war sehr positiv“, lobt Klaus Wenzel, Vorsitzender des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes. Kritisch sehe man aber das „sehr behutsame Vorgehen“. Die Bildung von Profilschulen widerspreche der Idee der UN-Konvention, da erneut spezielle Einrichtungen entstünden.
Dass vieles in puncto Inklusion noch Theorie ist, das merkt Ursula Walther, Sprecherin des Bayerischen Elternverbandes BEV, an Rückmeldungen aus der Elternschaft: Oft würde Eltern der Besuch einer Regelschule ausgeredet, weil die Ressourcen nicht ausreichten, um das Kind optimal zu fördern. Viele entschieden sich dann doch für eine Sonderschule. Um Bewegung ins System zu bringen, würde der BEV diese gerne abschaffen – allen voran die Schulen mit Schwerpunkt Lernbehinderungen. „Sie gibt es nur in Deutschland“, sagt Walther. In den meisten anderen Ländern würden Kinder mit Lernschwierigkeiten ganz selbstverständlich an allgemeinen Schulen unterrichtet. Nachdenklich stimme sie auch, dass ein hoher Prozentsatz an Sonderschulen Kinder mit Migrationshintergrund sind, deren Probleme vor allem aus sprachlichen Defiziten resultieren.
Auch Raphaela Ohlenforst-Kronwitter vom Verband Gemeinsam leben, gemeinsam lernen fordert „die komplette Abschaffung aller Förderschulen“. Die Ängste vieler Eltern davor könne sie nachvollziehen. Doch sie gibt zu bedenken: Trotz gut ausgebildeten Personals an Förderschulen würden die Kinder dort nicht angemessen gefördert, weil der Lehrer ständig mit anderen Dingen beschäftigt sei.
Auch an den Profilschulen sei die Ausstattung mit 13 Lehrerstunden für zehn Kinder mit Förderbedarf zu gering, kritisiert Frank Tollkühn, zuständiger Fachreferent beim BLLV. 200 zusätzliche Lehrerplanstellen seien bei 4000 Schulen in Bayern zu knapp bemessen: „In diesem Tempo brauchen wir noch 50 Jahre bis zu einer wirklichen Inklusion“, so Tollkühn. Die „Faktorisierung von Kindern“ stellt Verbandschef Wenzel in Frage: Wer Inklusion ernst nehme, müsse eine Schule organisieren, die für alle da ist. „Zu sagen: ‚Du bist ein Inklusionskind’, das ist menschenverachtend“, so Wenzel.

Bezirke klagen über die hohen Kosten für Schulbegleiter


Je nach Behinderung haben die Kinder Anspruch auf einen Schulbegleiter, der sie unterstützt. Die Bezirke aber klagen über die deutlich gestiegenen Kosten dafür. Die interfraktionelle Arbeitsgruppe Inklusion sei sich des Problems bewusst und mit den Bezirken und Landkreisen im Gespräch, sagt Thomas Gehring, bildungspolitischer Sprecher der Grünen.
Die Hürden im System kennt auch Marion Peters: Ihr Sohn kam mit einem Schlaganfall zu Welt, deshalb wollte sie ihn an einer wohnortnahen Schule mit flexibler Eingangsklasse anmelden, die nicht die Sprengelschule war. Die Zusage vom Schulamt dauerte bis kurz vor Schulbeginn – und ist zunächst nur für zwei Jahre gültig.
Der flexible Schulanfang erlaubt es dem aufgeweckten Erstklässler, sich ohne Sitzenbleiben mehr Zeit zu nehmen. „Amos fühlt sich in der Schule sehr wohl“, sagt Peters. Die Fahrtkosten zur zehn Minuten entfernt liegenden Schule müssen die Peters’ allerdings selbst tragen. Den Shuttlebus zur Förderschule, der wesentlich teurer gewesen wäre, hätte dagegen die öffentliche Hand finanziert. (Anke Sauter)

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