Politik

Begehrte Adresse: Das Berliner Schloss Bellevue, Sitz des Bundespräsidenten – hier am Tag der offenen Tür. (Foto: ddp)

11.06.2010

Irreale Wünsche

Christian Wulff ist zwar der offizielle Präsidentschaftskandidat von Schwarz-Gelb – doch für Euphorie sorgt er nicht

Möglicherweise haben sich führende Liberale geärgert, nicht selbst auf den Namen Joachim Gauck gekommen zu sein. Angela Merkel hätte sich schwer getan, den von ihr geschätzten Ex-DDR-Bürgerrechtler und Chef der Stasiunterlagen-Behörde als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten abzulehnen.
Tatsächlich hat bislang kein Unionspolitiker abfällig über den von Rot-Grün aus dem Hut gezauberten Gauck gesprochen. Im Gegenteil: Fast unisono fällt die Vokabel „respektabel“, wenn es um den 70-jährigen Pastor geht. Bemerkenswert auch, dass noch niemand aus der Union der bislang treffendsten Charakterisierung Gaucks widersprochen hat – sie stammt vom SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel und lautet: Gauck bringe „ein Leben mit“, der offizielle Kandidat von Schwarz-Gelb, Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) „lediglich eine politische Laufbahn“.
„Da waren wir halt zu spät dran“, sagt, etwas resigniert, Bayerns Wissenschaftsminister Wolfgang Heubisch. Nachtarocken hält der Liberale trotzdem für „Schwachsinn“.
Nicht alle aus seiner Partei sind so generös. Verschiedene FDP-Spitzenpolitiker haben sich darüber geärgert, dass ihr Parteichef Guido Westerwelle die Kandidatenfrage so hurtig wie widerstandlos der Kanzlerin überlassen hat – vor allem die ostdeutschen FDP-Landesverbände. Und die Facebook-Gruppe „Joachim Gauck als Bundespräsident“, gegründet von einem FDP-Mitglied, hat zwischenzeitlich über 11 000 Mitglieder. Zudem drohen einzelne Liberale, aus Wut über die auch von der Union angezettelte Steuererhöhungsdebatte den Kandidaten Wulff nicht zu unterstützen.
Dass Gauck als Bundespräsident ins Schloss Bellevue einzieht, scheint dennoch äußerst fraglich: Rot-Grün verfügt in der 1244 Wahlleute zählenden Bundesversammlung über maximal 460 Stimmen – Schwarz-Gelb hingegen über 647 Stimmen. Damit ist eigentlich schon alles gesagt. Zwar ist in den ersten beiden Wahlgängen eine absolute Mehrheit von 623 Stimmen erforderlich. Schwarz-Gelb kann sich also maximal 24 Abweichler leisten. Doch auch wenn alle ostdeutschen FDP-Wahlleute für Gauck votieren, kostet das Wulff nur 10 Stimmen. Und selbst wenn Wulff zwei Mal die absolute Mehrheit verfehlte, wird es schwierig, die dann ausreichende einfache Mehrheit zu erringen: Rot-Grün verfügt mit Linker und sonstigen Kleinparteien über höchstens 599 Stimmen. Die Linke (sie besitzt maximal 125 Wahlleute) hat sich mit der Journalistin Luc Jochimsen ohnehin für eine eigene Kandidatin entschieden. Daneben wütet der einstige Linke-Chef Oskar Lafontaine gegen Gauck – wie er behauptet, aber nicht, weil Gauck als Stasiaufklärer so manchen Linkenpolitiker gepiesackt hat. Sondern, weil Gauck Schröders Agenda 2010 gelobt habe – so einer sei „als Bundespräsident unzumutbar“, giftet Lafontaine. Bayerns Linke-Chef Michael Wendl, der nicht zu den Scharfmachern in seiner Partei zählt, beklagt, ,,von Gauck „noch nie etwas zu sozialen Fragen gehört zu haben“. Im Gegensatz zu Lafontaine kann sich Wendl aber vorstellen, Gauck in einem dritten Wahlgang zu wählen. Allerdings ist Wendl selbst nicht Wahlmann.
Alles wäre viel einfacher, wenn das Volk den Präsidenten direkt wählen könnte, meinen die Freien Wähler – und werden dabei unterstützt vom CSU-Europaabgeordneten Manfred Weber. Über die Konsequenzen, die eine solche Kandidatur mit sich brächte, schweigen sie sich aus. Fakt ist: Die Präsidentschaftsbewerber müssten dann einen regelrechten Wahlkampf führen. Ganz schön viel Aufwand für einen Posten ohne größere Kompetenzen, meint der CSU-nahe Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter: „Wenn das Volk nach der Wahl feststellte, dass der Präsident ohnehin nichts zu sagen hat, wäre die Enttäuschung groß.“
In der Tat verfügt der Bundespräsident vor allem über die Macht des Wortes. Der zurückgetretene Horst Köhler kam damit nicht zurecht; er trat zurück, weil er berechtigte Kritik an einer misslichen Formulierung nicht aushielt. Reden zumindest kann Wulff, seine öffentlichen Ansprachen sind gefällig und unpeinlich. Als Vordenker hingegen ist er bislang nicht aufgefallen. Wofür steht Wulff? Er könne Menschen „zusammenführen“, sagt der CDU-Mann über sich. Verständlich, dass kaum einer von Union und FDP bislang in Euphorie verfallen ist, wenn vom Kandidaten Wulff die Rede war. Die frühere bayerische Sozialministerin Christa Stewens (CSU) erklärt: „Ich hätte mir einen konservativen Intellektuellen gewünscht.“ Man beachte den Irrealis. (Waltraud Taschner)

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