Politik

Individuelle Betreuung lautet das Motto für das künftige Schulsystem. Das Bild zeigt die Grundschule an der Fürther Hans-Sachs-Straße. (Foto: BSZ)

03.06.2011

Mathe auf Zweitklass-, Deutsch auf Erstklassniveau

In der "flexiblen Grundschule" haben alle genügend Zeit zum Lernen

Jedes Kind ist anders – was seine persönlichen Begabungen angeht, aber auch hinsichtlich Entwicklung und Vorbildung. Um der unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeit von Kindern besser Rechnung zu tragen, hat das bayerische Kultusministerium in Zusammenarbeit mit der Stiftung Bildungspakt Bayern den Modellversuch „flexible Grundschule“ gestartet. Die Bilanz nach dem ersten Jahr ist positiv.
„Ich wünschte, auch unsere Tochter hätte die Möglichkeit gehabt, in eine flexible Eingangsstufe zu gehen“, sagt Inci Aydin-Yaylagül. Yasemin (9) ist eines jener hochbegabten Kinder, die ohne elterliches Zutun mit vier Jahren bereits lesen können. Doch Yasemins Begabung wurde in der regulären Schule nicht gefördert. Und als sie doch eine Klasse überspringen konnte, wurde sie von ihren Mitschülern gemobbt: „Yasemin war sehr unglücklich“, sagt ihre Mutter. Der kleine Bruder Remzi indes kam an die Grundschule an der Fürther Hans-Sachs-Straße – in eine flexible Eingangsklasse. „Das war von Anfang an toll: Die Älteren haben den Jüngeren geholfen, die Lehrerin hat ein offenes Auge für die Begabungen ihrer Schüler“, sagt Aydin-Yaylagül, die in Nürnberg als Kinderärztin arbeitet.


Individuelles Lerntempo


20 Grundschulen in ganz Bayern beteiligen sich an dem Schulversuch, die Grundschule in Fürth ist eine davon. Der Schulversuch soll im Jahr 2013 abgeschlossen sein, dann wird entschieden, ob die flexible Grundschule flächendeckend eingeführt werden soll.
Das Konzept: Erst- und Zweitklässler werden gemeinsam unterrichtet, diese Schuleingangsstufe kann in einem bis zu drei Jahren durchlaufen werden – je nach individuellem Lerntempo. Danach rücken die Kinder in eine „jahrgangsreine“ dritte Klasse auf. „Ziel ist es, dass am Ende der Eingangsstufe alle über eine stabile Wissensbasis verfügen“, sagt Ludwig Unger, Sprecher im Kultusministerium. Das heißt: Die wesentlichen Grundkenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen sollen soweit gefestigt sein, um problemlos weitermachen zu können.
Die Schüler würden immer heterogener, ein „Einheitsbrei“ sei für viele Kinder der falsche Weg, so Unger. Sie müssten individuell nach ihrer Begabung gefördert werden. Ein Gedanke, der auch bei Kritikern des bayerischen Schulwesens gern gehört wird. „Wir sind bekanntermaßen keine Fans der bayerischen Bildungspolitik“, sagt Henrike Paede, stellvertretende Vorsitzende des bayerischen Elternverbandes. „Aber das ist einer der wenigen Punkte, wo wir wirklich einverstanden sind.“ Die Kinder bekämen die Zeit, die sie bräuchten, um sich zu entwickeln, und könnten voneinander lernen.
Auf diese Weise bleibe möglichst vielen Kindern die „Demütigung des Sitzenbleibens erspart.“ „Das ist ein gutes Projekt“, lobt auch Thomas Gehring, bildungspolitischer Sprecher der Grünen im Landtag. Unverständlich sei jedoch, warum das Konzept nur an 20 Schulen eingeführt worden sei: „Das ist ein Tropfen auf dem heißen Stein.“ Ein Vorreiter in Sachen Bildungspolitik ist Bayern mit diesem Modellversuch nämlich nicht. Andere Länder, zum Beispiel Baden-Württemberg und Hessen, haben die flexible Eingangsstufe längst eingeführt.

Erfahrungen aus Nachbarländern nutzen


Warum brauchte es da überhaupt noch einen Versuch? Hätte man sich die Erfahrungen aus den Nachbarländern nicht zueigen machen können? „Wir müssen zum Beispiel im Bereich der Lehrerbildung erst die Voraussetzungen schaffen“, erklärt Ministeriumssprecher Unger. Bislang werde die Fortbildung vor allem durch Lehrer gewährleistet, die bereits Erfahrung mit Kombiklassen gesammelt hätten.
Und auch beim Unterrichtsmaterial brauche man den Vorlauf, sagt Maria Wilhelm von der Projektleitung „Flexible Grundschule“ am Kultusministerium. Die zu vermittelnden Inhalte ergeben sich aus dem Lehrplan für die Jahrgangsstufen 1 und 2. Die koordinierenden Lehrkräfte der Modellschulen gleichen insbesondere bei der Erarbeitung kooperativer Lernbausteine die Inhalte beider Jahrgangsstufen auf Schnittmengen ab und entwickeln Bausteine, die in den jahrgangskombinierten Modellklassen von den Schülerinnen und Schülern gemeinsam bearbeitet werden können.
Erfahrung mit Kombiklassen gibt es an der Fürther Grundschule bereits, die sich schon am Modell „Kindergarten der Zukunft“ (KIZ) beteiligt hat. Das Konzept beruhte auf einer engen Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Schule – und auf einem gemeinsamen Unterricht in den Anfangsklassen. „Das ist der Unterricht der Zukunft“, sagt Ingrid Streck, die Leiterin der Fürther Grundschule. Die flexible Grundschule biete zusätzliche Vorteile: Dadurch, dass die Verweildauer in der Eingangsstufe nicht mehr im Schülerbogen vermerkt wird, falle der Druck weg.
Gelernt wird mit Bausteinen, die für jedes Kind passgenau zusammengestellt werden. So kann ein Kind in Mathematik bereits Zweitklassniveau erreicht haben, während es in Deutsch noch mit Erstklasstexten arbeitet. Jeder schreitet in seinem Tempo voran, ohne dass es groß auffällt, „ohne soziale Knechtung“, formuliert Streck. „Mich beeindruckt am meisten, wie die Kinder friedlich zusammen lernen“, sagt Betty Pauker, Leiterin einer beteiligten Grundschule im oberbayerischen Taufkirchen. Die Kinder helfen sich gegenseitig, lernen ihre Stärken und Schwächen kennen. „Das ist eine tolle Grundlage für die weitere Entwicklung“, so Pauker. „Die Kinder wachsen in die Schule hinein.“
Einen genauen Blick auf jedes Kind zu haben und es individuell zu fördern: eine anspruchsvolle Aufgabe für jeden Pädagogen. Eine besondere Herausforderung sei es, die Kinder zur notwendigen Selbst-ständigkeit zu erziehen, sagt Schulleiterin Streck. Zeitaufwendig sei zum Beispiel auch, jedem Schüler eine individuelle Hausaufgabe mit nach Hause zu geben. Immerhin ist die Klassengröße für die flexible Eingangsstufe auf 25 Schüler begrenzt. Und je nach Schülerzahl und besonderem Förderbedarf werden zusätzlich zwei bis fünf Lehrerwochenstunden zur Verfügung gestellt, so genannte Differenzierungsstunden.

Flexible Lehrer sind gefragt

Fakt ist: Für die flexible Grundschule braucht es besonders aufgeschlossene und engagierte Lehrkräfte. Der Schulversuch basiert bislang auf Freiwilligkeit. „Wenn das Ganze in die Fläche geht, könnte das schwierig werden“, sagt die Fürther Schulleiterin Ingrid Streck. „Im Fall einer sofortigen bayernweiten Umsetzung könnten wir sicher nicht erwarten, dass alle Lehrkräfte laut ‚Juhu’ schreien“, meint auch Maria Wilhelm vom Kultusministerium. Falls das Modell nach der Erprobungsphase flächendeckend eingeführt werde, müsse man das schrittweise tun: „Wir müssen unsere Lehrkräfte mitnehmen und werden daher im Vorfeld entsprechende Fortbildungen anbieten“, so Wilhelm. Schulleiterin Pauker ist überzeugt: „Die beteiligten Lehrer werden die anderen mit ihrer Euphorie anstecken.“
In Hessen, wo der flexible Schulanfang 2007 regulär eingeführt wurde, wächst die Zahl der beteiligten Schulen von Jahr zu Jahr. Im kommenden Schuljahr werden es 100 Grundschulen mit jahrgangsübergreifenden Eingangsklassen sein.
Angesichts der Diskussion um zunehmenden Lernstress in der Grundschule braucht man auch bei bayerischen Eltern kaum noch Überzeugungsarbeit zu leisten. Es ist kein Wunder, dass in Fürth alle vier kombinierten Eingangsklassen voll belegt sind. Inzi Aydin-Yaylagül, die Mutter von Yasemin und Remzi, sagt: „Es geht mir nicht darum, dass Remzi eine Klasse überspringen soll. Wir wollen keine Sonderbehandlung, sondern nur, dass unsere Kinder gern in Schule gehen und glücklich sind.“ (Anke Sauter)

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