Politik

Auch die Türken in Deutschland sind dazu aufgerufen, über die umstrittenen Verfassungspläne des türkischen Präsidenten Erdogan abzustimmen - zum Beispiel in Fürth. Kleines Bild: Auch in München sind Wahlkabinen aufgebaut. (Fotos: dpa)

27.03.2017

"Mein Land, meine Zukunft"

Für sie geht es um viel: In Bayern lebende Türken können seit Montag über das Verfassungsreferendum abstimmen. Der Andrang in den beiden Wahllokalen in München und Fürth hielt sich aber zunächst in Grenzen

Schilder auf Türkisch und Plakattafeln mit Halbmond und Stern weisen den Weg: Wo bis vor Kurzem Jazz- und Countrymusiker auftraten, durchziehen nun Abspannbänder den lichtdurchfluteten Saal, um den erwarteten Andrang zu kanalisieren. Die "Grüne Halle" in Fürth, ganz früher mal Markthalle, ist einer der beiden Orte, an denen in Bayern und Thüringen lebende Türken sich seit Montag an der Volksabstimmung über das umstrittene türkische Verfassungsreferendum beteiligen können.

Von einem Ansturm kann aber zunächst nicht die Rede sein. Kurz nach Öffnung des Wahllokals um 9.00 Uhr passieren nur wenige der insgesamt 65 000 Wahlberechtigten im Einzugsbereich des Nürnberger Generalkonsulats die Sicherheitskontrolle am Halleneingang. Vorbei an den noch menschenleeren Wartespuren suchen sie den direkten Weg zu einer der vier Wahlurnen. "An den Wochenenden kommen noch zwei Wahlurnen dazu", kündigte der Nürnberger Konsul Gürol Bas an. Dann wird mit mehr Andrang gerechnet.

115 000 Wahlberechtigte allein in Südbayern

Etwas größer ist am Montagmorgen das Interesse in München. Dort dient den rund 115 000 wahlberechtigten Türken in Südbayern ein ehemaliges Postamt als Wahllokal. Bevor Konsulatsmitarbeiter die Türe öffnen, warten davor bereits 50 Landsleute darauf, ihre Stimme abzugeben, obwohl sie dafür eigentlich zwei Wochen lang Zeit haben. Die Meinung über das Abstimmungsverhalten der in Deutschland lebenden Türken zur Verfassungsänderung ist zwiespältig - in Fürth wie in München.

"Ich habe viele Bekannte in Deutschland, die für eine Verfassungsänderung sind", berichtet eine 19-jährige Studentin aus München. Einige andere hoffen allerdings, dass eine Mehrheit gegen die Verfassungspläne des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan stimmt. "Der ist verrückt, der Mann", sagte ein 63-jähriger Mann, der seit 40 Jahren in München lebt. Sein Begleiter betritt das Wahllokal demonstrativ mit einer Krawatte mit dem Konterfei von Kemal Atatürk - dem Begründer und Modernisierer der Republik Türkei.

Die Urnen werden in der Türkei ausgezählt

Ganz gleich, wie sie zu der Verfassungsänderung stehen, die Erdogan weitreichende Kompetenzen einräumt - alle, die man an diesem Morgen darauf anspricht, machen klar: Es geht um viel. "Die Wahl ist enorm wichtig. Es geht um mein Land, es geht um meine Zukunft", sagt Cana Colak. Die junge Türkin ist Mitglied der türkischen sozialdemokratischen Partei und von dieser als Wahlhelferin und Wahlbeobachterin entsandt. Zusammen mit Vertretern anderer türkischer Parteien überwacht sie die Abwicklung der Stimmabgabe durch Konsulatsbeamte.

An den Tischen vor den mit rotem Halbmond und Stern versehenen weißen Papp-Wahlkabinen stapeln sich die mit "Evet" (Ja) und "Hayir" (Nein) bedruckten weiß-braunen Stimmzettel. Daneben liegen die mit zwei Siegelstempeln versehenen Wahlumschläge bereit. "Ein Siegel wurde in Türkei drauf gestempelt, das zweite ist der Stempel der jeweiligen Urne", erläuterte eine türkische Wahlbeobachterin die Wahlregularien.

Der 26 Jahre Erolem Hayir ist mit dem Wahlsystem dennoch nicht einverstanden. Dass die Urnen in der Türkei ausgezählt werden, findet er nicht richtig. "Das muss hier vor Ort passieren", macht der Erlanger Wirtschaftsingenieur-Student und Mitglied der türkischen Republikanischen Partei deutlich. Dass er den Ablauf als Wahlbeobachter überwachen kann, ist ihm dennoch wichtig. Dafür opfere er gerne eine Teil seiner Freizeit. Aus seiner Haltung zum Referendum macht er keinen Hehl: "Ich bin gegen die Verfassungsänderung." Er wolle doch nicht, dass die Türkei ein "afrikanisches Land" werde.
(Lisa Forster und Klaus Tscharnke, dpa)

Info: Die geplante Verfassungsreform 
Staatschef Recep Tayyip Erdogan will ein Präsidialsystem in der Türkei einführen. Nachdem im Januar das Parlament die Vorschläge für die Verfassungsreform beschlossen hat, soll das Volk am 16. April in einem Referendum abstimmen. Im Ausland lebende Türken können ihre Stimmen bis zum 9. April abgeben. Die wichtigsten der geplanten Änderungen:

- Der Präsident wird nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Der Präsident darf künftig einer Partei angehören. Er wird nicht mehr vom Parlamentspräsidenten, sondern von einem Vizepräsidenten vertreten. Der Präsident ist für die Ernennung und Absetzung von einer von ihm selbst zu bestimmenden Zahl von Vizepräsidenten, von Ministern und von allen hochrangigen Staatsbeamten zuständig. Das Parlament hat kein Mitspracherecht.

- Der Präsident kann in Bereichen, die die Exekutive betreffen, Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, die mit Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft treten. Eine Zustimmung durch das Parlament ist nicht nötig. Dekrete werden unwirksam, falls das Parlament zum jeweiligen Bereich ein Gesetz verabschiedet. Gesetze darf (bis auf den Haushaltsentwurf) nur noch das Parlament einbringen

- Parlament und Präsident werden künftig am selben Tag für die Dauer von fünf Jahren vom Volk gewählt, und zwar erstmals am 3. November 2019. Die zeitgleiche Wahl erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Partei des jeweiligen Präsidenten über eine Mehrheit im Parlament verfügt. Die Zahl der Abgeordneten steigt von 550 auf 600. Parlamentarische Anfragen gibt es nur noch schriftlich an die Vizepräsidenten und Minister.

- Neuwahlen können sowohl das Parlament als auch der Präsident auslösen, im Parlament ist dafür eine Dreifünftel-Mehrheit notwendig. In beiden Fällen werden sowohl das Parlament als auch der Präsident zum gleichen Zeitpunkt neu gewählt - unabhängig davon, welche der beiden Seiten die Neuwahl veranlasst hat.

- Die Amtszeiten des Präsidenten bleiben auf zwei beschränkt. Die Regierungspartei AKP hat aber eine Hintertür eingebaut: Sollte das Parlament in der zweiten Amtsperiode des Präsidenten Neuwahlen beschließen, kann der Präsident noch einmal kandidieren.

- Die Zählung der Amtszeiten würde unter dem neuen Präsidialsystem neu beginnen. Erdogan wäre also nach einem Wahlsieg 2019 in seiner ersten Amtsperiode. Mit der Hintertür (und bei entsprechenden Wahlerfolgen) könnte er theoretisch bis 2034 an der Macht bleiben.

- Der Präsident bekommt mehr Einfluss auf die Justiz: Im Rat der Richter und Staatsanwälte kann der Präsident künftig vier der 13 Mitglieder bestimmen, das Parlament sieben weitere. Feste Mitglieder bleiben der Justizminister und sein Staatssekretär, die der Präsident auswählt. Bislang bestimmen Richter und Staatsanwälte die Mehrheit der derzeit noch 22 Mitglieder des Rates. Das Gremium ist unter anderem für die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten zuständig.

- Gegen den Präsidenten kann nicht nur wie bislang wegen Hochverrats, sondern wegen aller Straftaten ermittelt werden. Allerdings ist eine Zweidrittelmehrheit aller Abgeordneten im Parlament notwendig, um eine entsprechende Untersuchung an die Justiz zu überweisen. (dpa)

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