Tagsüber fernsehen? Soweit kommt’s noch, sagt Renate Vorwerk, 74. Als die Münchnerin in Rente ging, wollte sie keine Couch-Ruheständlerlin sein, die ihre Zeit mit TV-Shows füllt. Stattdessen schrieb sich die ehemalige Prokuristin für Englisch-Kurse ein. Und kümmert sich um Flüchtlingskinder. An der Münchner Mittelschule an der Wörthstraße übt sie lesen mit ihren Schützlingen, die aus dem Irak, aus Eritrea, Somalia, Afghanistan und demnächst auch aus Syrien stammen. Und findet das wunderbar: „Die Kinder sind dermaßen willig zu lernen“, erzählt Vorwerk. „Das macht mir so viel Freude, weil ich die Fortschritte der Kinder sehe.“
Etwa zwei Stunden verbringt die Rentnerin wöchentlich an der Schule, die zur Betreuung der Flüchtlingskinder einen Förderverein gegründet hat. Zwölf Ehrenamtliche arbeiten dort mit, berichtet Schulleiter Martin Hüttinger. Er ist hoch erfreut über das Projekt. Denn je mehr Zuwendung die jungen Leute erhalten, um so rascher gelingt deren Integration. „Rund 90 Prozent unserer 240 Schüler sind Migranten“, sagt Hüttinger; sie kommen aus über 40 Nationen.
Fördervereine gibt es laut Kultusministerium an vielen bayerischen Schulen. Deren genaue Zahl ist aber nicht bekannt. „Die Schulen müssen das nicht bei uns melden“, so ein Ministeriumssprecher.
Big Sister hilft im Alltag
Bürger, die jungen Flüchtlingen helfen wollen, haben daneben die Möglichkeit, Patenschaften zu übernehmen. Das gibt es etwa in Regensburg oder in Nürnberg. „Wir haben sehr viele Angebote von interessierten Bürgern erhalten“, sagt Juliane von Roenne-Styra, Sprecherin der Stadt Regensburg. Wer die Prüfung des zuständigen Jugendamtes durchlaufen hat, kann als Pate junge Flüchtlinge zum Beispiel mit in den Sportverein nehmen, ihnen Nachhilfe erteilen oder einfach mal die Stadt zeigen. In Nürnberg ist das Projekt „Big Brother – Big Sister“ angelaufen, das ebenfalls im Wege von Patenschaften funktioniert. Die Stadt Fürth plant, das Modell zu übernehmen.
Am schönsten wäre es für allein eingereiste Flüchtlingskinder allerdings, wenn sie dauerhaft in einer bayerischen Familie leben könnten. Doch genau das ist derzeit nur schwer möglich. Nicht, weil es an Familien fehlte, die bereit wären, ein Kind aufzunehmen. Es hakt am Personal bei den Jugendämtern, das die erforderliche Überprüfung der Pflegefamilien in spe durchführt. „Interessierte Familien gäbe es genug“, sagt Peter Selensky, Vorstand des diakonischen Werks Rosenheim, das Träger der Jugendhilfe Oberbayern ist. Allerdings seien die Jugendämter personell völlig überfordert: „Die schaffen es nicht, so viele Familien zu überprüfen.“ Selensky bedauert, dass deshalb dieses Jahr in seinem Zuständigkeitsbereich erst sechs junge Flüchtlinge in eine Pflegefamilie vermittelt wurden. „Es könnten deutlich mehr sein“, klagt Selensky. Das zuständige Kreisjugendamt Rosenheim räumt die Schwierigkeiten ein: „Wir versuchen seit Monaten, Sozialpädagogen zu finden“, stöhnt die stellvertretende Jugendamtsleiterin Jutta Nillies. „Es ist uns nicht gelungen.“ Der Markt an Sozialpädagogen „ist leergefegt“, bestätigt Alexander Thal vom Bayerischen Flüchtlingsrat. Thal erlebt seit Monaten, dass vor allem die Jugendämter in Rosenheim, München und Passau unter Druck sind – dort kommen die meisten Flüchtlinge an.
"Flüchtlingskinder betreuen - das ist so ein Gewinn!"
Auch Renate Vorwerk würde gerne ein Flüchtlingskind aufnehmen. In ihrem Fall scheitert das allerdings an der Raumnot: „Meine Wohnung ist zu klein.“ Sie könne aber jedem nur empfehlen, sich um junge Flüchtlinge zu kümmern. „Das ist so ein Gewinn“, schwärmt die 74-Jährige. Immer wieder erlebt sie, dass die jungen Leute sie noch Jahre nach dem Schulabschluss auf der Straße ansprechen und sie umarmen. „Die erzählen mir dann ganz stolz, was sie alles geschafft haben.“ (Waltraud Taschner)