Politik

Mitat Özdemir bringt an der in der Hauswand an der Trappentreustraße eingelassenen Gedenktafel einen Kranz an. Auf einer der Schleifen steht: "Kein Opfer ist vergessen." (Foto: Stumberger)

21.01.2015

"Niemand glaubte ihnen"

Kölner Anschlagsopfer berichten im NSU-Prozess von ihrem Schicksal. Und eine Podiumsdiskussion am Abend beleuchtet, wie aus den Opfern Täter gemacht wurden

Warum Mitat Özdemir heute hier steht? „Mein Sohn ist drei Minuten bevor die Bombe explodierte, daran vorbeigefahren“, sagt der 67-Jährige. Und: „Wir wollen die Menschen vor Gericht nicht alleine lassen.“ Wir – das sind die Mitglieder der Initiative „Keupstraße ist überall“, die nach München gekommen sind. Denn am Justizzentrum an der Nymphenburger Straße begann am Dienstag der NSU-Prozess mit der Zeugenvernehmung zum Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße.
Nur ein paar Kilometer Luftlinie vom Justizzentrum entfernt liegt die Trappentreustraße mit der Hausnummer 4 – dort wurde am 15. Juni 2005 Theodoros Boulgarides in seinem Schlüsseldienstgeschäft mit der NSU-Waffe ermordet. Es ist 10.45 Uhr, als Aktivisten der Keupstraßeninitiative dort eine Schweigeminute für die Münchner NSU-Opfer einlegen. Zuvor hatte Mitat Özdemir an der in der Hauswand eingelassenen Gedenktafel einen Kranz angebracht, „Kein Opfer ist vergessen“ steht auf einer der Schleifen. Özdemir lebt seit 48 Jahren in Deutschland, doch seit jenem 9.  Juni 2004 ist für ihn das Land nicht mehr wie zuvor. Damals explodierte ein mit mindestens 702 Zimmermannsnägeln bestückter Sprengsatz vor einem Friseursalon in der von türkischen Migranten geprägten Straße in Köln, 22 Menschen wurden verletzt. Özdemir ist einer der Geschäftsleute aus der Keupstraße.

Große körperlichen Leiden - und auch seelische

Doch zurück zum Justizzentrum. Vor dem Gebäude ist ein weißes Transparent über die Straße gespannt. Auf ihm sind die vielen Namen der Opfer neonazistischer Gewalttaten zu lesen. Dahinter demonstriert die Initiative „Keupstraße ist überall“ mit einer Kundgebung ihre Unterstützung und Solidarität mit den Anschlagsopfern. „Rassismus ist das Problem“ lautet eine der Parolen.
Drinnen, im Gerichtssaal 101, sagen die ersten Zeugen zum Bombenattentat aus - und schildern in eindringlichen Worten ihre körperlichen und seelischen Leiden. Zugleich erheben die beiden Zeugen Sandro D. und Melih K. Vorwürfe gegen die Kölner Polizei - weil sie damals trotz ihrer schweren Verletzungen zunächst als Verdächtige betrachtet worden seien. Viele Jahre lang, bis zum Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrunds im Herbst 2011, tappten die Ermittler im Dunkeln. Mittlerweile geht die Anklage davon aus, dass die mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt den Sprengsatz dort deponiert haben. Beate Zschäpe, einzige Überlebende des NSU-Trios, steht als Mittäterin vor Gericht.
Sandro D. und Melih K. befanden sich damals direkt neben dem Fahrrad mit der Bombe, als diese explodierte. Beide kamen mit schwersten Verletzungen ins Krankenhaus. In Notoperationen mussten ihnen mehrere Nägel entfernt werden. Bei Sandro D. steckte einer der zehn Zentimeter langen Nägel im rechten Oberschenkelknochen. Unter den Folgen der Verletzungen leiden beide bis heute - körperlich und psychisch. Beide befinden sich nach wie vor in Psychotherapie.
Im Gerichtssaal bestätigt Zeuge Melih K. dann, dass er schon damals bei einer Befragung den Verdacht geäußert habe, dass die Tat einen rassistischen Hintergrund gehabt haben und ein „Ausländerhasser“ am Werk gewesen sein könnte. „Da braucht man kein Ermittler sein.“ In der Mittagspause erklärt dazu Stefan Kuhn, Rechtsanwalt der Nebenklage, draußen vor den Kundgebungsteilnehmern, die Brutalität und Vorgehensweise der Tat spreche für sich, sie wurzele in einer Ideologie aus Hass und Menschenverachtung.

"Die Gesellschaft zeigte mit den Fingern auf die Opfer"

Es ist 13 Uhr, als ein weiteres Opfer der Keupstraße in einer Pressekonferenz über den 9. Juni 2004 spricht. Er saß damals im Frisiersalon nur eineinhalb Meter von der Bombe entfernt, seine Verletzungen rührten vor allem von der zersplitternden Schaufensterscheibe her. Kemal K. kam 2000 als politischer Flüchtling aus der Türkei nach Deutschland, voller Hoffnungen. Die zerstieben in der Bombenexplosion, seitdem hat er sich von seinen sozialen Kontakten zurückgezogen. Alles Gewalttätige und Militärische macht ihm seitdem große Angst, ein Problem, das sich zuspitzt: Er soll in der Türkei seinen Wehrdienst ableisten. Kemal K. ist als weiterer Zeuge vor Gericht geladen. 
Am Abend ruft die Initiative "Keupstraße ist überall“ zu einer Demonstration in München unter dem Motto „Rassismus ist überall“ auf, die Abschlusskundgebung ist um 19 Uhr am Sendlinger Tor-Platz. Um diese Zeit sitzt Mitat Özdemir schon längst auf dem Podium in der Münchner Stadtbibliothek am Gasteig. Neben ihm Barbara John, die Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der Opfer der NSU-Morde. Es geht um den Umgang der Gesellschaft mit den Opfern. Und diese Gesellschaft bot ihnen keine Hilfe an, sondern zeigte mit dem Finger auf sie, sagt Frau John. Es habe keiner Bekennerschreiben bedurft: „Die Opfer waren die Botschaft.“
Mit auf dem Podium ist auch Heike Kleffner, die Journalistin ist Expertin in Sachen Rechtsextremismus. Sie spricht von jenem „institutionellen Rassismus“ in den Behörden, der die Wahrnehmung von rechtsradikalen Motiven bei Straftaten verhindert. Jahrelang wurden auch die Opfer der Keupstraße als Verdächtige eingestuft. Statt in Richtung Neonazis ermittelte man in Richtung Bandenkriminalität, fragte nach Schutzgeldzahlungen. Aus den Opfern wurden Tatverdächtige.  „Die Opferfamilien waren plötzlich Aussätzige, bis in die eigene Verwandtschaft hinein“, so Barbara John, „niemand glaubte ihnen“. 
Das Fazit von Mitat Özdemir ist denn auch bitter: „Wir Migranten wurden als Menschen zweiter Klasse gesehen – man begegnete uns nicht auf gleicher Augenhöhe.“ Und niemand habe nachgefragt, weder die Journalisten noch die Parteien oder die Behörden, und auch nicht die Nachbarn. Mit am Podium ist auch Judith Porath von einer Opferberatungsstelle in Brandenburg. „Bei den Migranten ist die Angst vor Angriffen sehr gestiegen“, so ihre Bilanz. Und schließlich berichtet Ombudsfrau John noch von einem Projekt zur Bewältigung der traumatischen Erfahrungen: Die Opferfamilien werden gemeinsam zu den Gedenkorten der NSU-Morde in sechs Städten fahren. Die Münchner Trappentreustraße Nr. 4 gehört dazu. (Rudolf Stumberger)

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